Ich leide unter meinem Chemobrain. Doch das gibts nicht, sagt mein Arzt. Angeblich. Neben einer besseren Diagnose vermisse ich bei ihm aber vor allem noch etwas anderes.
Sind Krankheitsgefühle nur dann wahr, wenn sie durch Studien belegt sind? Warum ich das frage? Vor ein paar Tagen hatte ich folgendes Gespräch mit einem Onkologen. Es ging im Wesentlichen um die Veränderungen nach einer Chemotherapie, die ich bei mir beobachtet hatte und von der mir auch andere immer wieder berichten: Eine deutlich spürbare höhere Vergesslichkeit.
Es kann schon vorkommen, dass Krebspatienten vermehrt Termine vergessen oder einfach auch nicht mehr richtig erinnern, was genau als nächster Schritt verabredet war.
„Mir ist es zum Beispiel auf einmal schwergefallen, mich in größeren Gruppen einzubringen. Auch die passenden Wörter fielen mir häufig nicht ein. Das sogenannte Chemobrain machte sich bemerkbar. Ich konnte das gut überspielen, aber ich war nicht zufrieden mit meiner Schlagfertigkeit oder hatte mit meinen Wortfindungsstörung zu kämpfen”, berichtete ich ihm.
„Das ‚Chemobrain‘ gibt es nicht“, war seine spontane Reaktion, die mich wie ein Pfeil traf. Das sei nur die psychische Belastung, die die Vergesslichkeit auslöse.”
Wie bitte? Ich war wie vor den Kopf gestoßen ...
Außerdem wäre das auch nicht durch Studien belegt und nur irgendwann von den USA aus auch in Europa als Begriff gelandet – ohne genau hinterfragt worden zu sein.
Was sollte ich darauf erwidern? Erst mal nichts. Auf dem Nachhauseweg überlegte ich, was ich mit dieser Aussage anstellen sollte.
Stimmte das alles etwa nicht? Habe ich, haben wir Patienten, das falsch wahrgenommen oder zugeordnet?
Ist am Ende der Begriff „Chemobrain“ tatsächlich völlig falsch? Und was bedeutet das konkret?
Sind Symptome nur dann vorhanden, wenn sie wissenschaftlich belegt sind?
All das schoss mir durch meinen Kopf.
Mir hatte die Begrifflichkeit bis zu diesem Gespräch immer geholfen, das Phänomen einer veränderten, vermutlich auch tumorassoziierten Wahrnehmung einzuordnen und als solche zu akzeptieren. Sie gibt mir Sicherheit. Das Infragestellen der Bezeichnung kann doch nicht bedeuten, dass es auch die Symptome nicht gibt.
Und: Welche Rolle spielt es, ob es das Chemobrain gibt oder nicht? Vielleicht ist es aber auch so, dass es Patienten gibt, die sich aus Angst vor dem Chemobrain gegen eine Chemotherapie entscheiden. Wie oft habe ich selbst schon gehört: „Wie, du machst eine Chemotherapie, das ist doch Gift.”
Was mir dieses Beispiel aber zeigt, ist, dass die Kommunikation zwischen Arzt und Patientin, (oft) immer eine bleibt, die die Autoritäten zum Ausdruck bringt. Und wie war das noch mal mit der Augenhöhe?
Der partnerschaftliche Aspekt, nämlich, dass wir gemeinsam entscheiden, was in der vorliegenden Situation passt und sich stimmig anfühlt, findet aus meiner Sicht auch im Anerkennen von Symptomen seinen Platz. Das habe ich hier vermisst. Und natürlich bin ich nicht Kollegin und möchte es auch gar nicht sein. Nur um das schon mal vorwegzunehmen.
Das gewählte Wording hat dennoch seine Berechtigung. Ich benötige keinen Studiennachweis. Oder anders gefragt: Gibt es denn eine Studie, die das Gegenteil beweist? Und: Wie genau sieht der Versuchsaufbau aus, um das objektiv zu testen?
Vermutlich sind die Ursachen wie häufig multifaktoriell, was mich wiederum zu dem Schluss bringt, dass eine entlastende Bezeichnung à la Chemobrain gar nicht so verkehrt ist, zumindest aus Patientensicht.
Eine Antwort aus meinem Expertenpool möchte ich hier gerne als Schlussbemerkung setzen. Denn die bringt für mich genau das zum Ausdruck, um was es mir geht.
Ich zitiere frei:
„Ist es nicht so, dass real ist, was Patient*innen empfinden, egal wie ich es nenne? Die Frage nach den PROMs (Patient reported outcome measures), also all das, was einen Menschen während und nach der Krebstherapie (oder auch anderen Therapien) beschäftigt, sollte daher nicht nur Standard sein, sondern auch wegweisend für weitere Untersuchungen oder Therapien.“
Ich bin gespannt auf eure Meinungen hierzu.
Mehr von der Autorin gibt es hier: Das Zellenkarussell.
Bildquelle: Mariia Shalabaieva, Unsplash