Während Arzneimittelhersteller früher vor allem mit Innovationen aus ihrer eigenen Forschung punkteten, hat sich ihre Strategie grundlegend geändert. Blockbuster sind selten geworden. Wie die Übernahmeschlacht von Pfizer versus AstraZeneca gezeigt hat, gelten strategische Käufe heute als Mittel der Wahl: eine gefährliche Taktik.
Was wird sich in 2014 auf dem Arzneimittelmarkt tun? Mit dieser Frage hat sich der amerikanische Finanz- und Wirtschaftsdienstleister Thomson Reuters befasst und erstaunliche Antworten gefunden. Experten rechnen mit lediglich drei neuen Blockbustern, also Produkten mit mehr als einer Milliarde US-Dollar Umsatz pro Jahr. Die Details:
GlaxoSmithKline und Theravance setzen auf Anoro® Ellipta®. Das Präparat enthält Umeclidiniumbromid plus Vilanterol als Bronchodilatatoren und soll zur Erhaltungstherapie bei chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD) eingesetzt werden. Die US-amerikanische Food and Drug Adminstration (FDA) hat bereits grünes Licht gegeben. Analysten rechnen bis 2019 mit Umsätzen von rund drei Milliarden US-Dollar. Patienten mit indolentem Non-Hodgkin-Lymphom (INHL) oder chronisch-lymphatischer Leukämie (CLL) hoffen auf Idelalisib von Gilead: ein Inhibitor der Phosphoinositid-3-Kinase Delta. Mittlerweile liegen Zulassungsanträge für die USA (INHL) und für Europa (INHL, CLL) vor. Läuft für den Hersteller alles gut, solle sich der Umsatz später auch hier im Milliardenbereich bewegen. Sovaldi®, ein weiteres Präparat aus dem Hause Gilead, hat diese Hürden bereits genommen – sowohl in Europa als auch in den Staaten. Das Präparat enthält Sofosbuvir, einen NS5B-Polymerase-Inhibitor, und kommt bei Patienten mit Hepatitis C zum Einsatz. Bereits in diesem Jahr könnte Gilead mit Sovaldi® etwa 2,4 Milliarden US-Dollar umsetzen, vermuten Branchenkenner. Als weiterer heißer Kandidat gilt laut Charlotte Jago von Thomson Reuters Life Science Dulaglutide, ein lang wirksames GLP-1-Analogon von Lilly. Vom gleichen Hersteller kommt der monoklonale, gegen VEGFR-2 gerichtete Antikörper Cyramza® bei Magenkrebs. Aus übergeordneter Perspektive bleibt bei nur drei relativ sicheren Kandidaten wenig Grund zur Freude.
Zum Hintergrund: Basierend auf eigenen Auswertungen sehen Marktforscher einen Rückgang der zu erwartenden Zahl an pharmazeutischen Kassenschlagern. „Es ist interessant, zu beobachten, wie sich die Blockbuster-Ära von gestern gewandelt hat“, sagt Jon Brett-Harris, Geschäftsführer von Thomson Reuters Life Sciences. Er prognostiziert eine „Repositionierung“ mit „präzisen Arzneistoffen“. Für die Pharmaindustrie ist das Thema nicht ohne Brisanz: Patente laufen aus, die Pipeline tröpfelt nur schwach, aber personalisierte Therapien bringen noch nicht den gewünschten Umsatz. Jetzt hat sich auch KPMG International mit dieser Problematik eingehend befasst. Laut dem Beratungsunternehmen hätten sich Renditen auf Forschung und Entwicklung drastisch verringert. Waren es vor zwei Jahrzehnten noch 20 Prozent, liegt der Wert aktuell nur noch bei zehn Prozent. Durch gesetzliche Modelle wie der frühen Nutzenbewertung hat sich das Verhältnis von Preis und Gewinn ebenfalls verschlechtert. „Das Geschäftsmodell, das die Pharmaindustrie in den letzten Jahrzehnten betrieben hat, weist Ermüdungserscheinungen auf“, kommentiert Chris Stirling von KPMG Life Sciences Practice. „Kosten explodieren, bahnbrechende Innovationen schwinden, der Wettbewerb ist intensiv, und das Umsatzwachstum flacht ab.“ Stirling kritisiert, gegenwärtige Industrie-Modelle stellten nicht Patienten in den Mittelpunkt, sondern Produkte. Entscheidungen würden einzig und allein von dem Wunsch gesteuert, weitere Blockbuster zu erzeugen. Er fordert Firmen auf, von der altehrwürdigen Wertschöpfungskette zu einem – wie er es nennt – „Werte-Ökosystem“ umzusteigen: mit Patienten und mit Services rund um Pharmaka.
Chris Stirlings Ideen sind noch nicht bei allen Verantwortlichen angekommen, das zeigen Ereignisse der letzten Wochen. Jüngstes Beispiel ist Pfizers dringlicher Versuch, AstraZeneca zu erwerben. Brancheninsider sind darüber kaum verwundert – Pfizer habe schon länger Schwierigkeiten, mit eigenen Innovationen zu wachsen. Zwischen 2000 und 2009 hat die Firma deshalb Warner Lambert, Pharmacia und Wyeth erworben. AstraZeneca würde mit neuen Pharmaka zur Modulation des Immunsystems bei Krebserkrankungen gut in das Portfolio passen. Nachdem Pfizer zuletzt ohne Erfolg umgerechnet 85,2 Milliarden Euro geboten hatte, soll es momentan keine weiteren Bemühungen in diese Richtung geben. Eine im britischen Recht verankerte Friedenspflicht währt sechs Monate – schon im August beginnt aller Wahrscheinlichkeit nach die nächste Pokerrunde. Laut „Financial Times“ fordert BlackRock als größter Investor bei AstraZeneca neue Gespräche. Dass freut nicht alle Beteiligten. Leif Johansson, Verwaltungsratsvorsitzender bei AstraZeneca sagt, sein Unternehmen werde auch ohne Fusion den Umsatz in den nächsten Jahren deutlich steigern, man habe „genügend potenzielle Kassenschlager in der Pipeline“. Vielleicht zeigt aus diesem Grund Pfizer derart großes Interesse am Kauf.