KOMMENTAR | Ständig liest man vom Märchen des deutschen Impfmuffels. Warum das gar nicht wahr ist und was der Glaube damit zu tun hat, lest ihr hier.
Von Zeit zu Zeit poppt die Nachricht auf, die Deutschen seien nicht nur kriegs- und lebens-, sondern auch impfmüde. Immer weniger Menschen, so heißt es, würden sich nach den Vorgaben der Ständigen Impfkommission, kurz STIKO, impfen lassen oder ihre Impfungen auffrischen. Um dem Lamento gleich die Spitze zu nehmen: So ganz richtig und simpel ist das nicht. Die aktuellen Zahlen des Robert Koch Instituts vom Dezember 2022 zeigen, dass die Impfquoten über die Jahre bei den acht empfohlenen Impfungen, von Influenza über Tetanus bis Masern, annähernd gleich geblieben oder sogar gestiegen sind.
Auch interessant: Die neu hinzugekommene Covid-Impfung führte nicht zu einem Rückgang der anderen Impfquoten, wie man im Sinne einer Ermüdung erwarten würde, sondern im Gegenteil zu einem Anstieg. Die Bewohner im Osten Deutschlands lassen sich übrigens häufiger impfen als die im Westen. Einzige Ausnahme ist die Masernimpfung, was an der hohen Durchimpfung zu DDR-Zeiten, und dem daraus resultierenden geringen Nachholbedarf bei Erwachsenen liegt.
Woher kommt dann die Klage von der Impfmüdigkeit? Es verhält sich mit ihr wie mit der Vorsorgemuffeligkeit der Männer: Die Quoten sind niedriger als es sich die Experten wünschen. Im Falle der Impfungen sind die Wunschziele im Nationalen Impfplan festgeschrieben. Aber aufgemerkt, das 159 Seiten starke Werk datiert noch aus dem Jahr 2012, ist also deutlich angestaubt. Darin heißt es: „Ein wichtiges Impfziel ist die Erreichung eines vollständigen Impfschutzes für alle Altersgruppen.“ Dafür sind beispielsweise Impfquoten von 85 % für Diphterie und bis 95 % für Masern nötig, und zwar „in jedem Kreis und jeder Stadt“. Wer solche Maximalziele formuliert, als wäre der Impfplan ein Wunschzettel fürs Christkind, installiert die Impfmüdigkeit schon im System.
Nun weiß jeder, dass wir nicht in der besten aller Welten leben, in der vermutlich auch die Ziele des Nationalen Impfplans erreicht werden würden. Dennoch ist die Frage natürlich berechtigt, was genau uns von der heilsten aller Impfwelten trennt. Eine mögliche Erklärung liefert die in diesem Jahr publizierte Untersuchung von zwei Forschern von den Unis Freiburg und Amsterdam.
Wer an Anthroposophie und Homöopathie glaubt, so fanden sie heraus, lässt sich und die Seinen weniger oft immunisieren als jemand, der der wissenschaftlichen Medizin vertraut. Das ist einerseits nicht weiter verwunderlich, da Anhänger esoterischer Heilslehren per se einen laxen Umgang mit Evidenz pflegen. Andererseits ist es aber auch nicht zwingend, weil etwa Homöopathie-Erfinder Samuel Hahnemann gar nicht gegen Impfungen wettern konnte, da es sie seinerzeit noch nicht gab.
Die eher assoziative Verbindung zwischen esoterischer Aufgeschlossenheit und Impfskepsis spiegelt sich auch in den Ergebnissen der Studie wider: So ist die Haltung, die mit der stärksten Impfablehnung einhergeht, eine negative Einstellung gegenüber der wissenschaftlichen Medizin, und nicht eine positive Einstellung gegenüber der Esoterik: Während nur etwa 15 % der glühendsten Anthroposophie-Anhänger und etwa 30 % der Homöopathie-Gläubigen nicht gegen Covid geimpft sind, liegt der Anteil unter den Wissenschaftsverächtern bei etwa 65 %.
Dass Impfskepsis kein Privileg der Alternativmediziner ist, zeigte sich auch bei der Einführung der HPV-Impfung vor knapp 20 Jahren. Damals beging Sanofi Pasteur MSD das Sakrileg, noch vor der STIKO-Empfehlung Werbeflyer für seinen HPV-Impfstoff Gardasil® in Schulen zu verteilen – dabei waren, das nur nebenbei, Schulen früher effektive Impforte.
Was folgte, war ein bespielloser Schulterschluss zwischen notorischen Impfgegnern aller Couleur, die HPV als neues Feindbild willkommen hießen, Vertretern der reinen EbM-Lehre, die auf Langzeitstudien pochten, und Frauenärzten, die der HPV-Impfung als Konkurrenz zu ihrem Pap-Abstrich eher reserviert begegneten. Statt die HPV-Impfung als die so lange herbeigesehnte golden bullet gegen Krebs zu feiern, wurde sie von einem einflussreichen Bündnis verfemt. So hat uns auch die damalige Stimmungsmache gegen die HPV-Impfung, so denke ich, die heute noch beschämend niedrigen HPV-Impfquoten eingebrockt.
Statt sich nun weiter in Spekulationen zu verlieren, sei den Gründen für das Nicht-Impfen einmal systematisch nachgegangen. Dazu ist ein Blick in eine schon etwas betagte, aber immer noch aktuelle Abhandlung von 2019 hilfreich, in der Wissenschaftler der Unis Erfurt und Aachen das Phänomen Impfmüdigkeit anhand des 5C-Modells psychologisch analysieren. Gründe, sich für oder gegen eine Impfung zu entscheiden, sind demnach:
Beim Punkt Confidence kritisieren die Autoren auch die Medien. So kämen Experten dort nach dem journalistischen Prinzip der Ausgewogenheit zu Wort – unabhängig davon, ob der eine sich auf wissenschaftlich belegte Fakten und der andere auf unwissenschaftliche Phantasmen stützt. Diese „false balance“ würde Laien ein ganz falsches Bild von der Faktenlage und dem Expertenkonsens vermitteln. Die Forderung der Autoren: Medien sollten keine Balance der Meinungen, sondern der Evidenz anstreben.
Beim Punkt Complacency sind die Autoren der Ansicht, man müsse nur die Gefährlichkeit der Krankheit deutlich genug machen, dann würde man das Risikobewusstsein schon schärfen. Verzeihung, liebe Autoren, haltet ihr die Menschen wirklich für so dumm? Sie durchschauen doch sofort, dass in Gegenden mit niedriger Ansteckungsgefahr das individuelle Risiko tatsächlich gering ist. Wie ich selbst schon auf einem Expertenpanel gehört habe, wird von offizieller Seite mitunter folgende Rechnung aufgemacht: Eine Impfung kann bei 1.000 Infektionen einen Todesfall verhindern und bei einer Million Geimpften einen Todesfall verursachen. Der Nutzen überwiegt das Risiko also klar.
Von wegen. Der Fehler in der Rechnung sind die verschiedenen Bezugsgrößen – es sind einmal die Infizierten und einmal die Geimpften. In Gegenden mit niedriger Ansteckungsrate, sagen wir 1 zu 10.000, ist also die individuelle Nutzenwahrscheinlichkeit 1 zu 10 Mio. Die Wahrscheinlichkeit, durch die Impfung zu sterben, ist dann zehnmal so hoch. Es ist also in diesem Fall eine absolut rationale, wenn auch wenig kollegiale Entscheidung, die Impfung abzulehnen.
Was auch immer der Grund für eine wie auch immer geartete Impfmüdigkeit ist, es gibt einige Möglichkeiten, Deutschland wachzuküssen. Die einfachste ist ein simpler Federstrich: Bei der Aktualisierung des Nationalen Impfplans könnte man von den übermotivierten Impfzielen Abstand nehmen, zumindest in ihrer jetzigen kategorischen Form. Dann würde man sich eher an anderen, erreichbareren Zielen orientieren und schon sähen die Menschen in Deutschland nicht mehr so schläfrig aus der Wäsche.
Oder man nimmt die Ziele ernst und macht Nägel mit Köpfen, zum Beispiel mit einer Widerspruchslösung: Ein zentrales Impfregister, wie es die Niederlande etabliert haben, fordert die Menschen gezielt zum Impfen auf, am besten gleich mit Termin. Nur wer aktiv widerspricht, kann sich dem Impfen entziehen. Dieser Weg hat den Charme, Zwang und Freiwilligkeit aufs Eleganteste zu verbinden.
Was auch als gute Option gehandelt wird, ist, die Impfung zu den Menschen zu bringen und nicht darauf zu warten, dass sie sich die Impfung in den ewig überfüllten Praxen holen. Niederschwelliges Impfen in Apotheken, Schulen und Impfmobilen würde hier die Hemmschwelle deutlich senken.
Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller spricht sich ebenfalls für pragmatische, niederschwellige Lösungen aus, etwa für den digitalen Impfpass, damit Deutschland seinen Impfpass nicht erst suchen muss. „Was wir sicher nicht brauchen“, sagt der vfa, „sind weitere Studien, Untersuchungen und Auswertungen.“ Und ich möchte hinzufügen: Was wir auch nicht brauchen, sind immer neue, gut gelaunte pro-Impfen-Kampagnen. Deutschland soll ja zunehmend kampagnenmüde sein …
Bildquelle: Thomas Schütze, unsplash