Herr Seifert fröstelt. Er hat den Rettungsdienst gerufen, weil es ihm „richtig mies geht“ und er kaum noch Kraft zum Aufstehen hat. Zuerst vermute ich eine Pneumonie – aber als er von seinen Zahnschmerzen erzählt, werde ich hellhörig.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Ein rettungsdienstlicher Notfalleinsatz, wie er jeden Tag überall passiert. Die Patientenwohnung roch nach ungelüftetem Dunst der letzten Tage. Überall lag benutzte Wäsche und unaufgeräumte Alltagsgegenstände. Verdrecktes Geschirr stapelte sich auf der Küchenzeile, die – sogar für eine Wohnung mitten in der Stadt – winzige Ausmaße bot. Meine Kollegin blieb im Türrahmen der Eingangstür stehen.
Ich merkte an ihrem Blick, dass sie innerlich den Kopf schüttelte. Immer wieder trat ich auf klebrige Flecken, die am Boden beinahe unsichtbar waren. Eine umgekippte Limoflasche war der Übeltäter.
Obwohl die sommerlichen Temperaturen dazu einluden, sich das Hemd aufzuknöpfen, waren die Fenster bei Herrn Seifert geschlossen. Er fror und schüttelte sich ab und an. „Entschuldigen Sie, dass es hier so aussieht“, sagte er. Ich wusste, wie er sich in diesem Moment fühlte. „Kein Problem“, sagte ich. „Wie können wir helfen?“
Herr Seifert sagte, er wisse nicht mehr weiter. Er fühle sich so mies wie schon lang nicht mehr. Er könne nicht mehr aufstehen, habe keinerlei Kraft und Schüttelfrost. Es gehe ihm einfach richtig mies. Wir schreiben das Jahr 2019. Corona existierte zu diesem Zeitpunkt bislang nur am Huanan-Wildtiermarkt in Wuhan, aber trotzdem war mein erster Verdacht, Herr Seifert habe sich eine virale Infektion eingefangen. Also FFP2-Maske auf, und weiter mit der Untersuchung.
xABCDE: x und A waren unauffällig.
B: Die Sauerstoffsättigung war zu niedrig. Der Patient gibt auf Nachfrage an, schlechter als üblich Luft zu bekommen, was mich nach dem Ergebnis meiner Lungenuntersuchung nicht weiter wundert. Er erhielt daraufhin 2 Liter Sauerstoff über eine Nasenbrille. Der Effekt war ein Anstieg der Sättigung auf 97 %.
C: Auffällige Kreislaufsituation. Patient war tachykard, möglicherweise durch das Fieber bedingt, und mit zu niedrigem Blutdruck, der jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht kreislaufwirksam zu sein schien. Jedoch gab der Patient an, zu wenig getrunken zu haben. Er erhielt darauf einen venösen Zugang und 500 ml Ringer-Acetat, um einem drohenden Kreislaufproblem und einer Exsikkose entgegenzuwirken.
D war unauffällig, E: Patient hatte Fieber.
S: Patient öffnete selbst die Tür und gab an, dass es ihm seit Tagen sehr schlecht ginge und er jetzt nicht mehr weiterwüsste.
A: keinerlei Allergien bekannt
M: Herr Seifert hatte morgens 500 mg Paracetamol gegen Fieber eingenommen – ohne Erfolg. Ansonsten nahm er 5 mg Bisoprolol, 100 mcg L-Thyroxin, Simvastatin sowie Vitamin D 2000 i.E..
P: Hypothyreose, Hypertonie, Hypercholisterinämie
L: zuletzt einen Tag zuvor gegessen, Medikation nach Plan eingenommen.
E: plötzliche Verschlechterung ohne ersichtlichen Grund.
R: keine ersichtlichen Risikofaktoren
Klare Sache – das musste eine Pneumonie sein. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich das Problem über den Hausarzt oder den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst abwickeln soll. Herr Seifert hätte ohnehin den Hausarzt bevorzugt. Beim KVB-Arzt verzog er das Gesicht. Aber irgendwie machte er auch einen zu schlechten Eindruck, um ihn unkontrolliert in die Hände des Hausarztes zu geben, der möglicherweise gar nicht erreichbar war. Zwar besserten sich die Atembeschwerden auf die Sauerstoffgabe, das schwere Krankheitsgefühl reduzierte sich trotz der Infusion aber nicht. Ich signalisierte meinem Kollegen, Herrn Seifert über den Patientenzuweisungscode „Infekt, SK2“ in ein entsprechendes Haus einzuweisen.
„Wie sind die letzten Tage für Sie gelaufen? Was haben Sie unternommen? Haben Sie gearbeitet?“, wollte ich wissen.
„Ich bin im operativen Einkauf tätig. Keine schweren körperlichen Sachen. Ach ja – seit letzter Woche habe ich Probleme mit einem Zahn. Der hat mir ziemlich wehgetan. Die Wurzel wahrscheinlich. Ich brauchte nachts sogar einmal den KVB-Arzt.“
„KVB-Arzt? Um was zu bekommen?“
„Er war nur ganz kurz da und hat mir ein Schmerzmittel auf den Tisch gelegt. Das habe ich dann eingenommen. Ich weiß nicht mehr, wie das hieß, aber hier ist der Blister. Vielleicht können Sie das erkennen.“
Ich nahm den Blister. Nur ein Teil des Medikamentennamens war hier zu lesen. „algin“ konnte ich noch entziffern. Novalgin mit dem Wirkstoff Metamizol-Natriumchlorid. Und das bei Zahnschmerzen? Puh.
„Herr Seifert, haben Sie neben dem Fieber auch Aphten im Mund? Offene Stellen? Halsschmerzen?“
„Ja. Woher wissen Sie das?“
Ja, woher wusste ich das. Woran denkt ihr, wenn ihr einen Patienten mit Fieber, Halsschmerzen und Aphten im Mund vor euch stehen habt, der vor kurzem Metamizol eingenommen hat? Denkt ihr auch, dass der Patient mit einem augenscheinlichen Infekt in ein Haus mit Intensivkapazität gehört? Ich schon, denn Herr Seifert erfüllte die Kriterien für eine Metamizol-induzierte Agranulozytose.
Wir änderten die Voranmeldung. Aufgrund der Symptome, des Verlaufs und der zwei von drei erfüllten qSOFA-Kriterien konnten wir den Beginn einer Sepsis nicht ausschließen. Wir meldeten Herrn Seifert nun als Sepsis intensivpflichtig mit der Zusatzinformation „V. a. Agranulozytose nach Metamizoleinnahme“ an.
Fakt war: Das Krankenhauslabor bestätigte die Agranulozytose mittels des Differentialblutbildes. Das Blutbild zeigte eine Leukopenie um die 100 mcl pro ml Blut. Herr Seifert befand sich bereits auf dem halben Weg zur Sepsis.
Metamizol ist ein nicht-opioides Analgetikum mit antipyretischen und spasmolytischen Eigenschaften. Es wird vorrangig zur Behandlung starker Schmerzen und hohem Fieber eingesetzt. Dabei hemmt der Wirkstoff die COX-Enzyme. Dadurch entstehen weniger Prostaglandine, was wiederum zu einer Verminderung starker Schmerzen führt. Es findet keine Blutungsverstärkung statt.
Das hört sich zwar alles super an, aber dies wäre kein Case Report, wenn hier nicht anschließend noch eine Take-Home-Message stünde:
Herrn Seifert hat genau das getroffen, was in der Take-Home-Message enthalten ist: Noch am Nachmittag musste er intubiert und auf Intensiv verlegt werden, da er in einen dramatischen septischen Schock gedriftet war. Erst nach einigen Tagen und hochdosierter Breitbandantibiose, Abschirmung und Gabe von Granulozyten-Wachstumsfaktoren besserte sich sein Zustand.
Das Unerwartete zu erwarten und den Blick über den Tellerrand zu bewahren, ist nicht immer einfach – gerade wenn es sich um den tausendsten Einsatz mit dem gleichen Muster handelt. Hier hilft es mir persönlich, ein regelmäßiges kurzes Ten-for-Ten in meine Einsätze einzubauen.
Und: Hast du ein schlechtes Bauchgefühl, dann hast du ein schlechtes Bauchgefühl. Nimm den Patienten im Zweifel einmal mehr mit in die Klinik. Hätte ich den Patienten in diesem Fall auf den Hausarzt oder KVB-Arzt verwiesen, hätte der Einsatz in einer Katastrophe geendet. Herr Seifert hätte dies nicht überlebt.
Agranulozytose nach Metamizol: Herr Seifert zeigte unspezifische Symptome wie Fieber und Zahnschmerzen. Nach Anamnese wurde eine Metamizol-induzierte Agranulozytose diagnostiziert, die zu einer lebensbedrohlichen Sepsis führte.
Red Flags: Metamizol birgt ein erhebliches Risiko für Agranulozytose, die auch bei wiederholter Einnahme auftreten kann. Fieber, Halsschmerzen und Schleimhautläsionen sollten Ärzte alarmieren.
Wichtige Empfehlungen: Metamizol nur bei starken Schmerzen oder Fieber einsetzen. Eine umfassende Aufklärung ist essenziell, und bei Verdacht auf Agranulozytose muss der Patient sofort in eine Klinik mit Intensivkapazitäten überwiesen werden.
Quellen:
Haen E. et al. (2013) Tödliche Agranulozytose unter Novaminsulfon – aus Fehlern lernen. Arzneimittelverordnung Prax 40(2):45–46
Bekanntgabe DÄB: Agranulozytose nach Selbstmedikation mit Metamizol
Send T. et al. (2015) Klinische Symptomatik der metamizolinduzierten Agranulozytose in der HNO. HNO 3:215–219
Zeiner E. et al. (2015) Fatale Agranulozytose nach Metamizol-Reexposition. Praxis 104(3):151–154
Metamizol nur bei strenger Indikation, DAZ
Andrès E. et al. (2011) Clinical presentation and manegement of drug-induced agranulocytposis. Expert Rev 4(2):143–151
Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (2011) Agranulozytose nach Metamizol – sehr selten, aber häufiger als gedacht. Dtsch Ärztebl 108:A1758–A1759
Curtis BR (2014) Drug-induced immune neutropenia/agranulocytosis. Immunohematology 30(2):95–101
Schönhofer P. et al. (2003) Dipyrone and agranulocytosis: what is the risk? Lancet 361:968–969
Bildquelle: erstellt mit Midjourney