Krankenhaus- und Apothekerverbände warnen vor Lieferengpässen bei Kochsalzlösungen. Sitzen Ärzte bald auf dem Trockenen – und wie konnte es eigentlich so weit kommen?
„Was in den Klinken schon seit Monaten ein großes Problem ist, erreicht jetzt auch die Versorgung ambulanter Patienten“, sagt Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein, gegenüber der Rheinischen Post. „Es gibt zurzeit viel zu wenig Kochsalzlösung.“ Die Präparate werden benötigt, um OP-Gebiete freizuspülen oder um Medikamente zu verabreichen.
Matthias Blum, Geschäftsführer der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen, bestätigt gegenüber der DPA: „Der Engpass bei den Kochsalz-Spüllösungen beschäftigt die Krankenhäuser schon sehr lange. Seit Juni haben wir mehrfach darauf aufmerksam gemacht und davor gewarnt, dass Operationen verschoben werden müssen.“
Die Gefährdung von Patienten schließt Blum derzeit zwar aus. Dennoch bleibe Krankenhäusern oft nur die Möglichkeit, die angeforderten Mengen einzelner Abteilungen anzupassen, um möglichst alle Bereiche kontinuierlich beliefern zu können. Im schlimmsten Fall müssen planbare Eingriffe verschoben werden. Bleibt als Frage, warum sich die Situation so zugespitzt hat.
DocCheck hat beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) nachgefragt. „Die Lieferprobleme haben ihre Ursache in der Verschärfung der Anforderungen an die Sterilherstellung von Arzneimitteln“, erklärt ein Sprecher. „Durch diese Verschärfung kommt es zu einer Abnahme der Zahl der Lohnhersteller und Lohnabfüller, da viele der bisherigen Auftragsunternehmen aus Kostengründen die notwendigen Umgestaltungsmaßnahmen nicht umsetzen können.“
Der Hintergrund: Seit 25. August 2023 gelten in der EU strengere Vorschriften für die Herstellung steriler Arzneimittel, die im Anhang 1 des Good Manufacturing Practice (GMP)-Leitfadens festgelegt sind. Hier handelt es sich um das maßgebliche Dokument für die sterile und aseptische Herstellung. In vielen Bereichen sind Unternehmen angewiesen, ihre Produktionsprozesse schrittweise anzupassen, um sicherzustellen, dass sie den neuen Vorschriften entsprechen. Und jetzt zeigen sich die Folgen.
Schon im August 2023 hatte der BPI die Regeln als praxisfern und übertrieben kritisiert. Verschärfte Vorgaben wie der verpflichtende Austausch von Filtern nach jeder Produktionscharge führen zu höherem Aufwand, zu mehr Sondermüll und zu höheren Produktionskosten. Doch damit nicht genug. „Bei Ausschreibungen von Kliniken ist es in der Vergangenheit zu einem massiven Preisverfall bei Produkten gekommen, den Hersteller durch das Ausweichen auf Lohnhersteller und -abfüller außerhalb Europas zu kompensieren versuchten“, heißt es vom BPI weiter. „Da sich mittlerweile diese Lohnhersteller und -abfüller weigern, die durch den neuen Annex 1 verschärften Anforderungen zu erfüllen, stehen nicht mehr genügend Anbieter auf dem Markt zur Verfügung – mit dramatischen Konsequenzen für die Versorgung mit Blutplasma.“
Von dem Engpass ist derzeit vor allem Fresenius Kabi betroffen. Recherchen über Apotheken haben ergeben, dass etwa B. Braun oder das Serumwerk Bernburg Kunden noch mit NaCl-Lösungen beliefern – allerdings ausschließlich ihre Bestandskunden.
Theoretisch dürfen Apotheken mit geeignetem Labor sterile Zubereitungen wie Kochsalzlösungen herstellen. Hier gelten jedoch strenge Anforderungen an die Sterilität und Qualitätssicherung. Apotheken benötigen dazu geeignete Reinräume und müssen spezifische Hygienerichtlinien und Prüfverfahren einhalten. Unabhängig davon werden die Kosten einer Produktion in kleinerem Rahmen kaum vor Krankenkassen zu rechtfertigen sein.
Nun sind Lieferengpässe kein Problem der letzten Wochen oder Monate. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) führt eine Datenbank, in die Hersteller Lieferengpässe für versorgungskritische Arzneimittel eintragen. Am 9. Oktober dieses Jahres waren dort 496 Medikamente aufgelistet.
Der BPI jedenfalls fordert unabhängig von der aktuellen Situation „strukturelle Lösungen, die beim Kostendruck ansetzen und alle Versorgungsbereiche fokussieren“. Wenig überraschend sind Rabattverträge Stein des Anstoßes. Als Optimierungen nennt der Verband verpflichtende Mehrpartner- statt Exklusivmodelle. Außerdem sollten bei der Vergabe Produktionsschritte in Europa besonders beachtet werden. Bei versorgungsrelevanten Arzneimitteln sollte man auf Rabattverträge grundsätzlich verzichten.
Genau hier setzt eigentlich das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) an. „Wir machen Deutschland wieder attraktiver als Absatzmarkt für generische Arzneimittel“, hatte Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach gesagt. „Europäische Produktionsstandorte werden gestärkt und Reaktionsmechanismen verbessert. Damit wollen wir neue Lieferengpässe vermeiden.“
Weit gefehlt: Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der CDU/CSU zeigt, dass das ALBVVG noch keine Effekte bringt. Bislang zeigt sich nicht, dass neue Generika-Werke in Europa entstanden sind oder dass deutlich mehr Zuschläge bei Rabattverträgen an europäische Wirkstoffhersteller vergeben worden sind. „Jetzt haben wir es schwarz auf weiß: Das ALBVVG vermag das Problem der Lieferengpasse nicht lösen“, so die Einschätzung von Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika.
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