Eigentlich sollen Leitlinien den aktuellen Wissensstand zusammenfassen und evidenzbasierte Empfehlungen geben. Aber sind diese wirklich immer objektiv oder bestehen nicht selten Interessenkonflikte?
Eine nahezu unüberblickbare Zahl an nationalen und an internationalen Leitlinien versorgt Ärzte mit Wissen für die Praxis. Nur sind die Empfehlungen wirklich frei von jeglichem persönlichen Interesse? Die Frage ist berechtigter denn je. Anlässlich der Jahrestagung der European Society of Cardiology (ESC) habe ich einen Blick in Leitlinien dieser Fachgesellschaft geworfen.
Beginnen wir mit den 2023 ESC Guidelines for the management of endocarditis. Die Vorsitzenden Victoria Delgado und Michael A. Borger haben zu gleichen Teilen zu dem Dokument beigetragen. Interessenkonflikte aller Autoren sind online zu finden.
Delgado nennt u. a. Zahlungen von Medtronic, MSD, GE Healthcare, Novartis, Abbott Vascular und Edwards Lifesciences. Borger wiederum erwähnt Cryolife, Abbott, Edwards Lifesciences und Medtronic.
Weiter geht es mit den 2021 ESC Guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure mit Theresa A. McDonagh und Marco Metra als korrespondierenden Autoren. Auch hier sind Interessenkonflikte online zu finden. McDonagh gibt Zahlungen von Novartis, Pfizer und Vifor International an. Bei Metra sind es Amgen, Servier, Vifor International, Astra Zeneca, Abbott Vascular, Edwards Lifesciences und Windtree Therapeutics.
Noch ein Blick auf die Guidelines for the diagnosis and management of syncope mit Michele Brignole und Angel Moya als korrespondierenden Autoren. Alle Interessenkonflikte sind online abrufbar; Brignole und Moya haben keine Verflechtungen. Allerdings nennen die Koautoren u. a. Sanofi Aventis, Meda pharma, Daiichi Sankyo, Bayer Healthcare, Boehringer-Ingelheim, Boston Scientific, St Jude Medical, Biotronik, Medtronic und viele mehr.
Die Zusammenstellung zeigt, dass bei Leitlinienautoren Affiliationen zu fast allen namhaften Herstellern von Pharmaka oder Medizinprodukten im kardiovaskulären Bereich bestehen. Hier besteht zumindest das Risiko, dass Zahlungen die Objektivität gefährden, vor allem bei Fragestellungen im Graubereich, die sich nicht zu 100 Prozent über Studien beantworten lassen.
Als Gefahr droht, dass Leitlinien zugunsten bestimmter medizinischer Produkte, Therapien oder Technologien verzerrt werden, obwohl diese möglicherweise nicht die besten Optionen für Patienten sind – oder andere, kostengünstigere Strategien ihnen zumindest ebenbürtig sind.
Bleibt als Problem: Egal, ob Leitlinie oder wissenschaftliche Veröffentlichung – bislang geben sich Fachgesellschaften bzw. Journale damit zufrieden, dass die Autoren Interessenkonflikte nennen.
Eine Analyse der Cochrane Collaboration zeigt, dass durchaus weitere Maßnahmen möglich sind. In manchen Fällen werden Experten mit erheblichen Interessenkonflikten von Diskussionen und Abstimmungen ausgeschlossen, um eine Beeinflussung der Empfehlungen zu verhindern. „Wir raten Patienten, Ärzten und Entscheidern im Gesundheitswesen, in erster Linie klinische Leitlinien, Meinungsbeiträge und Übersichtsarbeiten zu verwenden, die von Autoren ohne finanzielle Interessenkonflikte verfasst wurden“, schreibt die Cochrane Collaboration. „Wenn dies nicht möglich ist, sollten Sie die Veröffentlichungen mit Vorsicht lesen und interpretieren.“
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