Erinnerungen an früheste Erlebnisse der Kindheit reichen lediglich bis zum Alter von drei bis fünf Jahren. Die Ausreifung von Nervenzentren ist eine neurologische Erklärung dafür, dass die Zeit davor „verschwindet“. Aber auch der Kulturkreis bestimmt das Ausmaß der infantilen Amnesie.
„Erinnerst Du Dich noch, als Du Dich nicht zwischen Teddybär und Bilderbuch entscheiden konntest?“ Die meisten Menschen werden diese Frage mit „Nein“ beantworten. Auch wenn die schwierige Entscheidung damals im Leben als Kleinkind fundamentale Bedeutung hatte.
Mit zunehmendem Alter vergessen wir immer mehr aus dem Erlebnisschatz unseres Lebens. Nach den Erkenntnissen von Douwe Draaisma von der Universität Groningen betreffen mehr als 70 Prozent unserer geistigen Rückblicke Erinnerungen an das erste Drittel unseres bisherigen Daseins. Entsprechend scheint das Leben immer schneller mit immer weniger bedeutenden Vorkommnissen zu vergehen. Und doch bleibt die Spanne der ersten drei bis fünf Jahre fast vollständig aus unserem Geist ausgeblendet. „Infantile Amnesie“ ist der Ausdruck, den Sigmund Freud prägte, als er dieses Phänomen der Dunkelheit der ersten Jahre beschrieb. Dabei ist das fehlende Erinnerungsvermögen für diese Zeit kein typisch menschliches Phänomen. Bei Maus und Ratte lässt es sich ebenso studieren.
Schon das Gehirn von Kleinkindern kann Erlebnisse speichern und bei Bedarf auch wieder abrufen. Säuglinge, deren Mütter in der Schwangerschaft regelmäßig Fernsehsendungen mit einer charakteristischen Kennmelodie gesehen hatten, lassen sich mit diesen Tonfolgen beruhigen – und erinnern sich möglicherweise an ihre wunderbar ruhige Zeit vor dem postnatalen Stress. Willentlich kann das Kind Eindrücke und Erfahrungen jedoch erst ab dem Alter von zwei Jahren wieder hervorholen. Das Stoffspielzeug, das die Mutter in einer von vielen Schubladen einer Kommode versteckt hatte, finden viele Kinder schon sehr früh im Leben wieder. Mark Howe von der City University in London konnte in diesen Studien zeigen, dass die Voraussetzung für dieses Erinnerungsvermögen das „kognitive Selbst“ ist, das Wissen um die eigene Persönlichkeit und ihre Erfahrungen. Charakteristisches Symptom dafür: Die Kinder erkennen sich im Spiegel selbst wieder. Ab dem Alter von vier bis fünf Jahren können Heranwachsende ihre Erinnerungen dann in Worte fassen, mit sieben entstehen erste Erzählungen über frühere Kindheitserlebnisse. In diesem Alter, so fand Patricia Bauer von der amerikanischen Emory University in Atlanta heraus, sind noch deutlich mehr Erinnerungen an die frühe Kindheit vorhanden als etwa bei Neunjährigen. Gespräche über gemeinsame bedeutende Erlebnisse im Alter von drei Jahren zwischen Kind und Mutter sind für die Siebenjährigen noch zu etwa 60 Prozent präsent, zwei Jahre später hingegen nur mehr zu 35. Ereignisse davor jedoch nur mehr in Ausnahmefällen. Je jünger das Kind, desto schneller und intensiver das Vergessen – so beschreibt Bauer die Dynamik bei der infantilen Amnesie. Am besten geht das Zurückerinnern noch bei Ereignissen, bei denen das Mutter-Kind Gespräch sehr intensiv war – oder mit starken Gefühlen verbunden.
Die „Erinnerungsgrenze“ für die frühe Kindheit ist allem Anschein nach unabhängig vom Lebensalter, das in den letzten Generationen immer mehr zunahm. Die Berichte vor etwa einhundert Jahren nennen ganz ähnliche Zahlen für die infantile Amnesie wie jene im 21. Jahrhundert. Aber es gibt auch Unterschiede: Der Erlebnisspeicher bei Erstgeborenen reicht weiter zurück als bei den Geschwistern, das Gleiche gilt für Frauen, die sich besser an die Zeit vor dem Kindergarten erinnern als Männer. Jedoch scheinen Kultur und das Umfeld einen ebenso wichtigen Einfluss auf das Vergessen zu haben. So endet bei Europäern die Phase der„vergessenen Jahre“ mit etwa dreieinhalb Jahren, bei Ostasiaten reicht sie dagegen bis ins sechste Lebensjahr. Die Ureinwohner Neuseelands, die Maori, können dagegen schon Erlebnisse im Alter von 2,5 Jahren aus den Schubladen ihres Gedächtnisses holen.
Möglicherweise, so spekulieren Amnesie-Experten, hängt das mit der Erzählkultur zwischen Mutter und Kind in den ersten Lebensjahren zusammen. Europäer und Nordamerikaner besprechen gemeinsame Erlebnisse ausführlicher als das etwa Chinesen tun. Bei den Maori gehören Erzählungen über die Familie und über deren Vergangenheit zu deren Traditionen. Schon vor mehr als zehn Jahren entdeckte Qi Wang von der amerikanischen Cornell University, dass nicht nur die Erinnerung von Amerikanern weiter zurückreicht als jene von Chinesen, sondern dass ihre US-Kollegen auch mehr Details aus dieser Zeit wussten als etwa Menschen jenseits des Pazifik. Wer sich als Mutter in Gesprächen intensiv mit dem Kleinkind beschäftigt, sorgt auch dafür, dass sich der Nachwuchs später im Gegensatz zu wortkargen Eltern viel besser an seine Kindheit erinnert – eine Erkenntnis der Arbeitsgruppe von Patricia Bauer.
Die neurologischen Prozesse, die zum Vergessen der frühen Kindheit führen, liegen zum Teil noch im Dunkeln. Es scheint jedoch so, dass die Neurogenese im Bereich des Hippocampus dabei eine bedeutende Rolle spielt. Die Region gilt als Sitz des Langzeitgedächtnisses. Der Gyrus dentatus, ein Teil des Hippocampus, reift erst mit vier bis fünf Jahren aus. Ohne ihn können Erinnerungen nicht ins Langzeitgedächtnis einwandern. Vor einigen Wochen erschien in „Science“ ein Artikel der Arbeitsgruppe von Paul Frankland und Sheena Josselyn von der University of Toronto, der deutlich machte, wie das „Vergessen“ im Gehirn vor sich gehen dürfte. Demnach sind die gespeicherten Informationen durch das „Remodelling“, den Einbau neuer Neuronen im Bereich des Hippocampus, nicht mehr verfügbar. Als die Forscher bei Mäusen die Neurogenese erhöhten, wurden diese automatisch „vergesslicher“. Umgekehrt blieben ihre Erinnerungen länger wach, wenn die Bildung neuer Nerven abnahm. Bei Meerschweinchen und Strauchratten (Degus) sind die meisten Granularzellen des Hippocampus schon vor der Geburt ausgebildet. Bei diesen Nestflüchtern kommt es kaum mehr zur Neusynthese von Neuronen. Ihr Gedächtnis ist weitaus besser als das von Nesthockern. Stimuliert man bei diesen Tieren jedoch die Nervenneubildung, setzt auch dort die Vergesslichkeit der frühen Kindheit ein.
Ob die gespeicherten Erinnerungen damit vollkommen verloren sind oder nur sehr schwer zugänglich, steht bisher noch nicht fest. Ganz wichtig für das Abspeichern von Erinnerung in Zusammenhang mit starken Gefühlen scheint eine Verbindung mit der Amygdala, dem „Gefühlszentrum“, zu sein. So sagt etwa der Hirnforscher Wolf Singer von der Universität Frankfurt, dass Erinnerungen nur im Zusammenhang mit Emotionen möglich seien, ein „objektives Erinnern“ gäbe es nicht. Werden die Verbindungen zwischen Hippocampus und Amygdala unterbrochen, sind auch die Erinnerungen ausgelöscht.
Lassen sich Erinnerungen an Ereignisse der frühen Kindheit wieder zweifelsfrei und detailliert hervorholen? Und wenn ja, wie? Diese Frage interessiert nicht nur Neurologen und Psychologen, sondern etwa auch Anwälte und Richter bei Prozessen, die Verbrechen viele Jahre später aufarbeiten sollen, bei denen ein Kind Zeuge oder Betroffener war. Wie zuverlässig die gespeicherten Eindrücke sind und ob sie sich möglicherweise manipulieren lassen, ist ein Thema, an dem intensiv geforscht wird. Die Kenntnis über die Prozesse bei der infantilen Amnesie könnte aber auch Erwachsenen nützen, die ein Trauma, sei es in der Kindheit oder dem späteren Leben, einfach nur vergessen möchten. Und je klarer es wird, warum und wie wir Ereignisse in unserem frühen Leben aus unserem Gedächtnis löschen, desto mehr steigen die Chancen, vielleicht auch einmal die Vergesslichkeit in der zweiten Hälfte des Lebens zumindest zu bremsen.