Hodenkrebs ist das Paradebeispiel für einen gut behandelbaren Tumor. Von Früherkennung wird deshalb abgeraten. Abtasten soll man seine Hoden aber trotzdem – warum nur?
Frage: Was haben Chorea Huntington, eine Fraktur des zweiten Halswirbels, alimentärer Marasmus, Kaffeesatzerbrechen und die vorsätzliche Selbstbeschädigung durch den häuslichen Gebrauch einer Schusswaffe gemeinsam? Antwort: Es sterben in Deutschland jeweils etwa so viele Männer daran wie an Hodenkrebs. Andere Karzinome bewegen sich ebenfalls auf demselben Niveau, wie etwa der Krebs der Ohrspeicheldrüse und auch Brustkrebs, wohlgemerkt bei Männern. Todesfälle durch bösartige Neubildungen am Zungengrund sind schon doppelt so häufig und Prostatakrebs rangiert in ganz anderen Dimensionen – der fordert jährlich knapp 100-mal so viele Opfer wie der Hodenkrebs.
Konkret reden wir über jährlich knapp 200 Männer, die an Hodenkrebs sterben, im Jahr 2021 waren es genau 179. Hodenkrebs ist nicht nur, was die Mortalität angeht, ein erfreulich seltener Krebs, sondern auch hinsichtlich der Inzidenz. Mit gut 10 neuen Fällen pro 100.000 Personen liegt er um den Faktor fünf unter der Grenze, bis zu der eine Krankheit als seltene Erkrankung zählt.
Die guten Heilungschancen mit fünf-Jahres-Überlebensrate von etwa 97 % sind dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass mit Cisplatin seit gut 30 Jahren ein wirksames Mittel gegen den Krebs zur Verfügung steht. Und das Beste daran: Cisplatin wirkt auch in fortgeschrittenem Stadium. So liegt die Fünf-Jahres-Überlebensrate für Stufe-III-Tumoren noch bei 80 %. Heldengeschichten, wie die des Radprofis Lance Armstrong, der nicht nur die höchsten Pyrenäenpässe, sondern auch seinen Hodentumor mit Hilfe der pharmazeutischen Industrie bezwang, zeugen also weniger vom Kampfgeist des Heroen, als vielmehr von den Segnungen der Chemotherapie.
179 Männer sind 179 zu viel, gewiss, zumal der Alterspeak der Mortalität beim Hodentumor für einen Krebs bei ungewöhnlich frühen 37 Jahren liegt, also pro Person deutlich mehr Lebenszeit verloren geht als zum Beispiel bei einem Prostatakarzinom. Um auch von diesen vergleichsweise wenigen Todesfällen noch möglichst viele zu verhindern, hat der Marburger Urologe Cem Aksoy den Verein PATE gegründet. Das Akronym steht für Prävention und Aufklärung testikulärer Erkrankungen. „Ziel muss es sein“, sagte Aksoy kürzlich in einem Interview, „dass Männer früh lernen, Ihre Hoden selbst regelmäßig zu beurteilen.“
Aksoy denkt groß: „Sinnvoll wären Aufklärungskampagnen, etwa von Krankenkassen oder gemeinnützigen Vereinen, und die Verbreitung von Informationsmaterialien in Schulen, Universitäten und über soziale Medien. Die Thematik könnte auch in den Schulunterricht – zum Beispiel Sexualkunde – integriert werden.“ Ebenso wäre die J2-Untersuchung geeignet für eine Anleitung zum sachgerechten Bedrücken der Balls, wie der Brite seine Hoden liebevoll nennt. Nur leider werde die kaum in Anspruch genommen, klagt Aksoy. Ich möchte allerdings die These wagen: Mit pubertierenden Jungs das Sackbefummeln zu üben, würde die Attraktivität von J1 und J2 nicht eben erhöhen.
In seiner Mission stützt sich Aksoy primär auf zwei Säulen: Zum einen auf eine Präventionskampagne, deren Ergebnisse er Ende November auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie in Leipzig präsentierte. Bei der Befragung von 104 Männern fanden er und seine Kollegen heraus, dass ein Drittel der Befragten seine Hoden noch nicht selbst abgetastet hat. Und noch alarmierender: Bei knapp jedem zehnten fand sich eine „relevante Pathologie“, zwei davon waren bösartige Hodentumore.
Die zweite Säule ist die S3-Leitlinie zum Hodenkrebs. Dort findet sich folgender Expertenkonsens: „Eine regelmäßige Selbstuntersuchung der Hoden sollte insbesondere jungen Männern empfohlen werden, da sie zu einer frühzeitigen Diagnosestellung führen kann.“ Konsensstärke 96 %! In der zugehörigen Patientenleitlinie wird zudem ausführlich erklärt, wie Mann sich am besten betastet – während des Duschens und mit abwechselnd links und rechts Prüfen der Hoden-Konsistenz, die der von Daumenballen ähneln sollte. Bei Knoten, harter Konsistenz und Größenunterschieden der Seiten sowie zu vorherigen Tastergebnissen sollte ein Urologe den heimischen Tastbefund abklären.
Nun ist das ja mit Früherkennungsuntersuchungen so eine Sache. Aksoy spricht zwar von der „Notwendigkeit“ regelmäßiger Selbstuntersuchungen, räumt aber ein, dass die S3-Leitlinie die Vorsorgeuntersuchung beim Urologen nicht vorsieht, „weil das Verhältnis von Aufwand und Nutzen ungünstig ist“. Dabei unterschlägt Aksoy einen ganz wesentlichen Punkt: Die Leitlinie erwähnt nicht nur den erheblichen Aufwand, sondern vor allem auch mögliche Nachteile wie „falsch-positive Ergebnisse, Ängste der Männer und Schäden durch diagnostische Testverfahren“.
Was auch die Leitlinie unterschlägt, sind Übertherapien an korrekt diagnostizierten Tumoren, die von sich aus jedoch niemals auffällig geworden wären. Sie gelten gemeinhin als das gravierendste Problem jeder Früherkennung. Mal kurz nachgerechnet: Wenn Aksoy in seiner Studie zwei Hodentumoren bei 104 Männern findet, ist das ein Verhältnis von 1 zu 50. Tatsächlich werden aber jährlich 4.000 Tumoren bei knapp 40 Millionen diagnostiziert, das ist ein Verhältnis von 1 zu 10.000. Auch hier möchte ich eine These wagen: Ich halte die Wahrscheinlichkeit für hoch, dass beiden in der Präventionskampagne entdeckten Tumore nicht unbedingt hätten gefunden werden müssen.
Noch an anderer Stelle zitiert Aksoy die S3-Leitlinie nicht voll wahrheitsgemäß: Er sagt, die Leitlinie sieht die Vorsorgeuntersuchung beim Urologen „nicht vor“, tatsächlich aber rät sie explizit ab: „Ein allgemeines Screening auf das Vorliegen eines KZT soll nicht durchgeführt werden.“ Schließlich sei neben den möglichen Schäden ein Nutzen nicht belegt. Mehr noch: Weil Hodenkrebs auch in fortgeschrittenem Stadium gut heilbar sei, wäre „auch theoretisch kein oder allenfalls ein minimaler Nutzen für Männer möglich“.
Das große Rätsel ist nun, warum die Leitlinienautoren eine Früherkennung beim Urologen so dezidiert ablehnen, ein Selbstabtasten aber befürworten. Denn für beiden gilt dieselbe Nutzen-Schaden-Abwägung: Nutzen so gut wie ausgeschlossen, Schäden vielfältig. Spitzfindige Zeitgenossen könnten nun einwenden, dass das Selbstabtasten das Gesundheitssystem ja wenigstens nicht belastet. Das stimmt. Wenn ein Mann den Pauschalvorwurf des Vorsorgemuffels nicht auf seinem Geschlecht sitzen lassen möchte, sich also seit dem 16. Lebensjahr monatlich abtastet und es damit bis zum 80sten Geburtstag auf 768 Tastevents bringt, macht er das 768-mal ganz umsonst.
Allerdings hat er dann auch 768 Gelegenheiten, etwas Verdächtiges zu ertasten, was dann sehr wohl auf Kosten des Gesundheitssystems abgeklärt werden würde. In eben diesem Abklärungsbedarf, der Männer scharenweise in die Urologenpraxen treiben würde, ein Motiv für die positive Empfehlung zum Abtasten zu vermuten, wäre natürlich absurd, schließlich sind die Praxen auch so schon mehr als ausgelastet.
Das Rätsel, warum Cem Aksoy, PATE und die deutsche Leitlinie die Männer zum Eiertanz bitten, wird noch kniffliger, wenn man die Empfehlung der U.S. Preventive Services Task Force bedenkt, die als Autorität in Fragen der Früherkennung gilt, und die – selektiv – auch in der Leitlinie zitiert wird. Schließlich macht die Task Force keinen Unterschied zwischen der Früherkennung beim Urologen und zuhause und rät von beiden klipp und klar ab: „Do not screen“.
Und um noch einmal auf den Anfang zurückzukommen und das Thema von einer höheren Warte aus zu betrachten: Wollte man jede Krankheit, die ebenso viele oder mehr Opfer fordert, mit ähnlichem Präventionsfuror begegnen wie dem Hodenkrebs, würde jeder Mensch 25 Stunden am Tag damit verbringen, sich zu befummeln, zu behorchen und zu belauern. Mindestens.
Bildquelle: Rodion Kutsaiev, Unsplash