Viele zuckerhaltige Lebensmittel sprechen gezielt Kinder an. Zahlreiche Verbände aus Medizin und Wissenschaft plädieren für ein Werbeverbot – doch bisher tut sich in Deutschland nichts. Was wir von anderen Ländern lernen können.
Werbung für süße Snacks und fettiges Fast Food flutet Tag für Tag die Kinderzimmer. Die Marketingtricks der Lebensmittel- und Süßwarenindustrie sind in der Lage, jedes vorbildhafte Ernährungsverhalten verantwortungsbewusster Eltern vollständig zu unterlaufen. Mit Slogans wie „Süß, rund und ganz schön bunt“, „Für einen leckeren Start in den Tag“ oder „Die fruchtige Pausenmahlzeit“ werden Heranwachsende zum Konsum von Frühstücksflocken, Bonbons, Müsliriegeln, Speiseeis, Fruchtpürees, Knabberartikeln und vielen anderen stark zucker- und fetthaltigen Snacks sowie gesüßten Drinks verführt. Allein die Süßwarenbranche hat letztes Jahr knapp 900 Mio. Euro für Werbung ausgegeben. Die Softdrink-Industrie war vor zwei Jahren noch mit 450 Mio. Euro dabei.
Kinder sind für die Lebensmittelindustrie eine attraktive Zielgruppe, denn ihre Kaufkraft ist nicht zu unterschätzen. Der Kinder-Medien-Studie 2019 zufolge stehen Kindern im Alter von 4 bis 13 Jahren insgesamt etwa 3 Milliarden Euro Taschengeld pro Jahr zur Verfügung. Besonders gerne geben sie das Geld für Süßigkeiten aus, weit mehr als für Comichefte oder Spielsachen. In den allermeisten Haushalten haben Kinder auch einen erheblichen Einfluss darauf, was eingekauft wird. Schon bei den Vier- und Fünfjährigen darf eine Mehrheit mitentscheiden, was bei den Eltern im Einkaufswagen landet.
Laut einer Studie der Universität Hamburg sehen Kinder zwischen drei und 13 Jahren pro Tag im Schnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel. Kindern in diesem Alter fällt es schwer, Programminhalte von Werbeinhalten zu unterscheiden. Sechsjährige Kinder erkennen nur ein Viertel der Werbung als solche, bei Achtjährigen ist es die Hälfte, bei Zwölfjährigen immerhin drei Viertel. Oft sind sich Kinder der verführerischen Absicht der Werbung gar nicht bewusst und neigen deshalb dazu, der Werbebotschaft zu glauben.
Foodwatch hat unlängst 283 an Kinder beworbene Produkte der führenden Lebensmittelunternehmen untersucht und mit den Nährwertempfehlungen der WHO abgeglichen. Das Nährwertprofil-Modell der WHO bewertet Lebensmittel anhand ihrer Nährstoffzusammensetzung. Dabei spielen die Anteile von gehärteten Fetten, zugesetztem Zucker und Kochsalz, aber auch der Kaloriengehalt sowie künstliche Süßstoffe eine Rolle. Das Ergebnis: 242 Produkte (85,5 %) sind nach den WHO-Kriterien unausgewogen und sollten demnach gar nicht an Kinder beworben werden. Sie enthalten in der Regel zu viel Zucker, Fett und/oder Salz. Lediglich 41 Produkte (14,5 %) entsprachen den WHO-Empfehlungen. Im Vergleich zur Vorgängerstudie aus dem Jahr 2015 hat sich hinsichtlich der Zusammensetzung ungesunder Kinderlebensmittel fast nichts geändert. Die Ergebnisse machen deutlich, dass die vorhandenen freiwilligen Selbstverpflichtungen nicht verhindern, dass ungesunde Lebensmittel an Kinder vermarktet werden.
Die allgegenwärtige Werbung für industriell stark verarbeitete Kinderlebensmittel trägt nachweislich zur Fehlernährung von Heranwachsenden bei, da die in der Kindheit erlernten Ernährungsmuster oft im Erwachsenenalter beibehalten werden. Einer Untersuchung des RKI zufolge essen Kinder doppelt so viel Süßigkeiten, aber nur halb so viel Obst wie von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfohlen. Das hat fatale gesundheitliche Folgen, denn hochkalorische, fett-, salz- und zuckerreiche Fertigprodukte gelten unter Ernährungsexperten als Hauptursache dafür, dass immer mehr Heranwachsende in immer jüngeren Jahren stark übergewichtig oder sogar adipös werden.
Schon jetzt sind Deutschlands Kinder zu dick. Gut 16 % der Drei- bis Siebzehnjährigen wiegen zu viel, etwa 10 % haben Übergewicht, knapp 6 % sind zusätzlich adipös. Das entspricht etwa 2 Mio. übergewichtigen und ca. 800.000 adipösen Kindern in Deutschland. Die WHO prognostiziert eine jährliche Zunahme der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen von 2,4 % bis zum Jahr 2035. In gut zehn Jahren werden also hierzulande geschätzt 11 % der Mädchen und 19 % der Jungen adipös sein, und es vermutlich ihr Leben lang bleiben. Übergewicht erhöht in späteren Lebensphasen das Risiko für Diabetes mellitus Typ 2, Leberverfettung, Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs. Aus dicken Kindern werden kranke Erwachsene. Die Erfahrung zeigt, dass nur wenige Kinder die Kilos dauerhaft wieder loswerden. Die Mehrheit bleibt im adipösen Leben gefangen, das wiederum im Durchschnitt um bis zu zwölf Jahre kürzer ist als eines mit Normalgewicht. Niemand möchte das für sein Kind!
Auch wenn ein direkter Zusammenhang zwischen Werbung für Ungesundes und kindlichem Übergewicht nicht immer leicht nachzuweisen ist, gilt er in der Forschung mittlerweile jedoch als gut belegt. Bereits 2003 hat eine schottische Forschungruppe erstmals den Einfluss der Lebensmittelwerbung auf Kinder systematisch untersucht. Schon damals folgerten die Autoren, dass die Lebensmittelwerbung die Vorlieben, das Ernährungsverhalten und die Kaufentscheidungen von Kindern und Jugendlichen negativ beeinflusst.
Kürzlich konnte der schädliche Einfluss der Werbung auf die Ernährungsgewohnheiten von Kindern in drei von der WHO in Auftrag gegebenen systematischen Reviews in Verbindung mit einer Meta-Analyse überzeugend bestätigt werden (hier, hier und hier). Die Verfasser der Übersichtsarbeiten kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Werbung für ungesunde Lebensmittel das Ernährungsverhalten von Kindern maßgeblich prägt und infolgedessen den Verzehr von Süßigkeiten und Softdrinks begünstigt. Die dadurch verursachte Fehlernährung führt mittelfristig zu Übergewicht und Zivilisationserkrankungen bei den Heranwachsenden.
Auf Basis der vorliegenden Studiendaten stufen sowohl die WHO als auch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) die Evidenz für den Einfluss von Werbung auf die Gewichtsentwicklung von Heranwachsenden als eindeutig ein und sprechen sich für eine gesetzliche Regulierung von an Kinder gerichtete Werbemaßnahmen für ungesunde Lebensmittel aus. Dass zu viel isolierter Zucker, gehärtete Fette, Salz und künstliche Zusatzstoffe auf Dauer nicht gesund sind ist in der Wissenschaft mittlerweile Konsens. Süßwaren und Softdrinks sind nach Ansicht zahlreicher medizinischer und ernährungswissenschaftlicher Fachgesellschaften deshalb nicht für den täglichen Verzehr geeignet. Es handelt sich vielmehr um Lebensmittelspezialitäten im Rang von Genussmitteln, die, nach Ansicht der Experten, besonderen Anlässen vorbehalten bleiben sollten.
„Kinder sind das Wertvollste, was wir haben“. Mit diesen Worten eröffnete Bundesernährungsminister Cem Özdemir seine Pressekonferenz am 27. Februar 2023, in welcher er Eckpunkte und einen ersten Referentenentwurf zu einem Gesetzesvorhaben für mehr Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung vorstellte. Als Teil der nationalen Ernährungsstrategie hatte die Ampel-Regierung im Koalitionsvertrag den Auftrag formuliert, den Schutz von Kindern unter 14 Jahren vor Werbung für ungesunde Lebensmittel und Getränke sicherzustellen.
Das so genannte Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz (KLWG) des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) sieht vor, die Bewerbung von Kinderlebensmitteln, deren Nährwerte für Zucker, Fett und Salz die von der WHO empfohlenen Richtwerte überschreiten, zukünftig zu untersagen. Das Werbeverbot soll in allen für Kinder und Jugendlichen relevanten Medien gelten. Dazu gehören neben Hörfunk, Fernsehen, Internet und Kino auch Printmedien sowie Schaufenster-, Plakat- und Verpackungswerbung. Der Entwurf sieht vor, Fernsehwerbung für Süßigkeiten und ungesunde Kinderlebensmittel von 6 Uhr morgens bis 23 Uhr abends zu verbieten. Außerdem soll untersagt werden, mit entsprechenden Plakaten im Umkreis von 100 Metern von Kitas, Schulen, Spielplätzen und Freizeiteinrichtungen zu werben. Nicht zuletzt soll an Kinder gerichtetes Sponsoring für Snacks, Limonade oder Eis künftig nicht mehr zulässig sein. Die Wirkung des KLWG soll durch begleitende Forschung evaluiert und gegebenenfalls nachgesteuert werden.
Bereits in seinem Gutachten von 2020 hat der wissenschaftliche Beirat des Bundesernährungsministeriums (WBAE) auf die unzureichende Effektivität freiwilliger Selbstkontrollen beim kinderbezogenen Marketing hingewiesen und gesetzliche Regelungen zur Werbekontrolle empfohlen. Nach Angaben der Gutachter ist der Konsum von Junkfood in Ländern mit gesetzlichen Beschränkungen des Kindermarketings im Zeitraum von 2002 bis 2016 um 8,9 % gesunken. In Ländern mit freiwilligen Selbstverpflichtungen ist der Konsum im gleichen Zeitraum hingegen um 1,7 % gestiegen.
Bei den Lebensmittelverbänden und der Werbewirtschaft kommen die geplanten Maßnahmen des BMEL naturgemäß nicht gut an. Gegen alle wissenschaftliche Evidenz bestreiten beide Interessengruppen den Zusammenhang zwischen Werbung, Ernährungsverhalten und Übergewicht. Dabei haben führende Nahrungsmittelproduzenten und die Werbewirtschaft bereits vor mehr als 15 Jahren eine freiwillige Selbstverpflichtung ins Leben gerufen, um Werbung für ungesunde Kinderlebensmittel zu verringern. Die Branche hat die kritische Rolle der Werbung also schon längst anerkannt und ihre Initiative stets als Beitrag zur Lösung des Problems dargestellt. Somit wäre es nun eigentlich an der Zeit, dass die Lobbyverbände die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Bewerbung von Süßwaren und Softdrinks ihrerseits nachweisen – im Sinne einer Beweislastumkehr.
Entgegen anders lautenden Behauptungen verbietet das KLWG ja nicht die Herstellung ungesunder Kinderlebensmittel, lediglich die Werbung dafür darf sich nicht mehr gezielt an Kinder richten. Mit den geplanten Werbeeinschränkungen werden Süßwaren, Snacks und Softdrinks also nicht vom Markt verschwinden, ihr Verzehr kann dadurch aber auf ein vertretbares Maß reduziert werden. Entsprechende Interventionen bei alkoholhaltigen Getränken und Tabakerzeugnissen haben dies bereits gezeigt.
Eine aktuelle Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) bestätigt einmal mehr die Praxistauglichkeit des WHO-Nährwert-Modells. Danach halten im Schnitt etwa 40 % der insgesamt 660 untersuchten Lebensmittel aus 22 Produktkategorien bereits heute die Grenzwerte für Kalorien, Zucker, Fette und Salz ein. In den meisten Lebensmittelkategorien könnte eine beträchtliche Anzahl von Produkten weiterhin uneingeschränkt auch an Kinder beworben werden. Insofern stellen die Pläne des BMEL kein Totalwerbeverbot für ungesunde Lebensmittel dar. Die Anwendung des Modells dürfte vielmehr die Werbung auf Produkte mit einem geringen Kalorien-, Zucker-, Salz- und Fettgehalt umlenken sowie Anreize für gesündere Rezepturen schaffen, schlussfolgern die Autoren.
Auch der gesamtwirtschaftliche Nutzen der geplanten Werbeeinschränkungen überwiegt. Eine aktuelle Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) untersuchte die ökonomischen Auswirkungen des KLWG aus volkswirtschaftlicher Perspektive. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die geplanten Werbeeinschränkungen für stark verarbeitete Fertigprodukte die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen schützen kann, ohne die Wirtschaft übermäßig zu belasten.
Im Gegensatz zu Deutschland haben bereits zahlreiche Staaten verbindliche Maßnahmen getroffen, um Kinder besser gegen negative Werbeeinflüsse der lebensmittel- und Süßwarenindustrie zu schützen. So dürfen z. B. in Chile Fertigprodukte und Getränke, die die WHO- Grenzwerte für Zucker, Salz, gesättigte Fette und/oder den Gesamtenergiegehalt überschreiten, seit 2016 nicht mehr in Schulen verkauft werden. Tagsüber zwischen 6 und 22 Uhr darf für derartige Produkte auch keine Werbung mehr ausgestrahlt werden. Dieses Verbot gilt für alle Medien und Formate und ist verpflichtend. Sämtliche Comic-Helden und Zeichentrickfiguren sind mittlerweile von den Verpackungen verschwunden. Dank dieser Maßnahmen geht die Fettleibigkeit der chilenischen Kinder kontinuierlich zurück. Auch in Mexiko ist es seit 2014 nicht mehr zulässig, in TV und Kino problematische Produkte an Kinder zu vermarkten. Kanada hat bereits 1980 ein Gesetz erlassen, das Werbung für Fast Food an Kinder unter 13 Jahren in gedruckten und elektronischen Medien verbietet. In der kanadischen Provinz Québec ist Kindermarketing sogar gar nicht mehr erlaubt – egal, wofür geworben wird. Laut einer Studie der University of British Columbia wurde infolge des Werbeverbots 13 % weniger Fast Food konsumiert. In Norwegen und Schweden dürfen Nahrungsmittel und Getränke generell nicht an Kinder beworben werden.
Die wissenschaftliche Grundlage für die Notwendigkeit einer Regulierung ist unbestreitbar. Es besteht heute kein Zweifel mehr daran, dass Werbung das Konsumverhalten und damit das Gewicht und die Gesundheit von Kindern negativ beeinflusst. Nach der UN-Kinderrechtskonvention ist jeder Staat verpflichtet, seinen Kindern und Jugendlichen ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen und sie vor ernährungsbedingten Krankheiten zu schützen. Der deutsche Gesetzgeber sollte sich der vorliegenden Evidenz anschließen und das Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz mit den vom BMEL vorgeschlagenen Maßnahmen noch in dieser Legislaturperiode verabschieden. Mit den geplanten Präventiv-maßnahmen könnte die Bundesregierung einen entscheidenden Beitrag zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und damit zur Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft leisten.
Quellen:
Birch LL. Development of Food Preferences. Annu Rev Nutr, 1999.
Robert Koch Institut. EsKiMo II - Die Ernährungsstudie als KiGGS-Modul, 2020.
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Smith R et al. Food marketing influences children's attitudes, preferences and consumption. A systematic critical review. Nutrients, 2019.
Holliday N et al. Use of the WHO Nutrient Profile Model for Food Marketing Regulation in Germany. Obes Facts, 2024.
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Dhar T et al. Fast-Food Consumption and the Ban on Advertising Targeting Children: The Quebec Experience. J. Marketing Research, 2011.
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