Die Ärztin Laura Dalhaus trifft mit ihrem Video voll ins Schwarze: Sie hat genug vom Papierkrieg in der Medizin – wie so viele von euch. Was das Fass für sie nun zum Überlaufen brachte, erzählt sie uns im Interview.
Dr. Laura Dalhaus schluckte ihre Wut herunter. Zunächst. Eine Mitarbeiterin der örtlichen KV hatte der Hausärztin gerade erklärt, dass sie das Bauchaortenscreening bei den Neupatienten aus der geschlossenen Nachbarpraxis nicht hätte machen dürfen – dies sei nicht plausibel. Nun habe sie halt Pech.
Der Hörer ist kaum aufgelegt, da tobt in der Ärztin ein innerer Kampf gegen diese Weltfremdheit und Ungerechtigkeit von KV und Kassen. Sie greift ihr Smartphone und nimmt ein Video auf, in dem sie ihrer Wut Luft macht (hier zu sehen). Das Statement lädt sie auf ihrem LinkedIn-Profil hoch – 5 Tage später reagierten fast 3.000 Menschen auf ihren Post, über 470 kommentierten. Sie scheint mit ihrem Anliegen voll ins Schwarze zu treffen.
Auch für Dalhaus waren es nicht die ersten Steine, die ihr seitens der Kassen und ihrer Ständevertretung in den Weg gelegt wurden. In einem vor zwei Jahren verfassten Buch macht sie bereits auf die Missstände aufmerksam. Missstände, die laut der Hausärztin nicht nur die Medizin betreffen, sondern das gesamte Sozialsystem an die Wand fahren. Das macht ihr aktuell immer mehr Sorgen, angesichts des Erstarkens radikaler Populisten. Nicht irgendwann – sondern jetzt. Aber warum tut niemand etwas?
In der Umgebung von Dalhaus passiert genau das, was in den letzten Jahren fast überall in Deutschland passiert, vor allem im ländlichen Raum: Arztpraxen schließen. Erst kürzlich hat das Zentralinstitut der kassenärztlichen Versorgung (ZI) dramatische Zahlen dazu veröffentlicht.
Dalhaus kann nun von beiden Entwicklungen ein Lied singen. „Seit 2022 haben wir jetzt gut 1.000 Patienten von anderen Praxen übernommen, die geschlossen haben“, erzählt die Hausärztin, die zuvor lange als Chirurgin an einer Klinik tätig war und schließlich in die hausärztliche Versorgung wechselte. Auf einen Schlag brauchen dann hunderte Patienten einen neuen Arzt – mittlerweile Alltag für Dalhaus. Und sie tut, was sie kann.
Der besondere Clou bei der Übernahme der Patienten: In der nun geschlossenen Praxis arbeiteten die Ärzte noch mit Karteikarten statt ePA und eRezept. „Wir haben Berge von Zetteln bekommen und mussten uns da irgendwie durchwühlen.“ Danach folgte Dalhaus' fataler Fehler: Sie und ihre Kollegen machten Eingangsuntersuchungen und Check-Ups – und bei entsprechender Indikation – auch Bauchaortenscreenings. „Nach nun 2 Jahren kommt von der KV der Hinweis: ‚Das hätten Sie nicht machen dürfen, denn der alte Hausarzt hatte das schon mal gemacht.‘ Ich frage mich: Woher sollen wir das wissen?“ Sowas müsse sie – so die KV – die Patienten fragen. Wie gut das funktioniert und wie fachlich verlässlich diese Aussagen dann sind, werden Ärzte-Kollegen wissen.
„Die Antwort auf unsere schriftlichen Begründungen zur Plausibilitätsprüfung war: ‚Wir glauben Ihnen nicht. Reicht uns nicht. Stimmt so nicht‘.“ Im Gespräch mit DocCheck findet die Ärztin ein treffendes Bild. „Stellen Sie sich vor, die Polizei stellt zwei Jahre lang einen Blitzer auf, sagt aber nicht, wie schnell man in der Straße fahren darf. Und nach zwei Jahren sagen sie dann ‚Ah – Sie sind aber zu schnell gefahren, oder?‘ Ja, woher soll ich das denn wissen, da stand kein Schild. ‚Pech gehabt.‘ – Diese Situation haben wir.“
In seinen Grundzügen ist das Problem aber kein neues. So anschaulich wie fast schon paradox: Ausgerechnet die Kassenärztliche Bundesvereinigung – also die institutionelle Mutter der westfälischen KV-Tochter – erhebt seit 2016 in einem Bürokratieindex die Belastung der niedergelassenen Ärzteschaft durch Verwaltung, Berichte und Rechnungen. Das kaum verwunderliche Ergebnis: Die Lage ist desaströs. So desaströs, dass auch der Virchowbund noch im vergangenen Jahr zu Praxisschließungen und Leistungskürzungen aufrief. „Die Arbeitsbedingungen von Ärztinnen und Ärzten und deren Teams müssen sich sofort spürbar verbessern. Leistungen, die nicht bezahlt werden, können auch nicht erbracht werden“, erklärte Dr. Jörg-A. Rüggeberg, Vorsteher der Allianz Deutscher Ärzteverbände, die das Ziel des Bürokratieabbaus verfolgen.
Doch nicht nur die Ärzte leiden darunter. Dalhaus sieht immer mehr Patienten, die von dem maroden System im Stich gelassen werden – und das bedrohe akut den sozialen Frieden in Deutschland. Menschen schuften jahrzehntelang, zahlen in ein System ein und stehen am Ende ohne Arzt oder nötige Untersuchungen da – und erleben ähnliches auch in der Kita, Schule, in den Kultureinrichtungen oder im Verkehr. Der Weg sei dann leider nicht mehr weit, dass sich viele den lautesten Schreiern einer angeblichen Alternative hingeben, die in der Migration einen Sündenbock gefunden zu haben scheinen – einfach ist eben auch bequem. Traurig genug, dass langsam auch die anderen Parteien auf diesen Zug aufspringen. Das echte Problem werde so aber nicht gelöst. Dass das Thema Gesundheit in vielen Grundsatzprogrammen gar fehle, ist laut der CDUlerin bestes Beispiel.
Und die Ärzte in diesem System? Müssen neben ihrer eigenen Gesundheit auch die mehr statt weniger werdende Bürokratie überblicken – immerhin scharren bei „unnötig“ erbrachten Leistungen die Kassen bereits mit den Regress-Hufen. Im Fall von Dr. Dalhaus fallen dabei vor allem TK und IKK negativ auf. In ihrem Fall ging es konkret um verschiedene Vorsorge-Leistungen wie das Bauchraum Screening, das Hepatitis Screening im Rahmen von Check-up-Untersuchungen oder dem Check-Up 35 – also z.B. alle Untersuchungen, die nur einmal in einem bestimmten Lebensabschnitt gestattet sind. „Nehmen Sie den 27-Jährigen, der vielleicht in München studiert. Er hat einmal so ein Check-Up 35 gemacht. Dann zieht er um nach Berlin. Der Berliner Kollege macht einen Check-Up 35 – zack, Regress.“
Harte Kritik hat die Ärztin zudem für die, welche diese teils sinnlose Bürokratie durchpeitschen: „Was mich wirklich sprachlos zurücklässt, ist das grundsätzliche Misstrauen sämtlicher Kostenträger“, so Dalhaus. Auf der einen Seite solle sie Lebensbescheinigungen ausstellen – also, plakativ gesagt, bestätigen, dass Herr Müller noch lebt. „Kein Witz. Und auf der anderen Seite, wenn ich bei Regressen oder Einzelfallprüfungen ganz klar erkläre, warum wir was verschrieben haben und das auch dokumentieren kann, dann wird mir gesagt ‚Wir glauben Ihnen nicht‘, ‚Das reicht nicht‘, ‚Sie können klagen oder sie haben Pech gehabt‘. Ich bin doch nur der Hanswurst der deutschen Bürokratie. Das ist ehrlicherweise nur noch schwer zu ertragen.“
Ob sich ein solches Problem nicht von alleine löse, wenn ab kommendem Jahr in der ePA alle Eingriffe, Behandlungen und Medikationen dokumentiert sind? Dalhaus schüttelt entschieden mit dem Kopf. Die ePA sei eine vom Patienten gesteuerte Akte – wenn dieser bestimmte Untersuchungen darin nicht abgebildet haben wolle, sieht auch der neue Arzt nicht, was bis dahin passiert ist. „Ich wäre vorsichtig damit, ob die ePA so ein flächendeckender Erfolg ist, weil es erstmal nichts anderes als ein Kommunikationstool für die Patienten ist.“
Die Hausärztin fühlt sich wie aus der Zeit gefallen. „Grundsätzlich befinden wir uns in einem System, in dem die Regeln, nach denen wir arbeiten, aus einer Zeit kommen, in der es eine Ärzte-Schwemme gab und im Prinzip zu viele Ärzte im Verhältnis zu den Einwohnern. Das bricht uns jetzt das Genick. Also, worum geht es denn jetzt hier? Um die medizinische Versorgung der Bevölkerung? Oder geht es darum, Regeln zu befolgen, die aus einer anderen Zeit stammen, die heute gar nicht mehr praktikabel sind?“
Doch genau da ist ja was im Gange. Im Super-Reformjahr des Herrn Lauterbach wird eine Neuerung nach der anderen rausgehauen. Von Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz, Digital-Gesetze bis hin zum Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz. Zwischendurch schaffte es der emsige Minister, den Hausärzten in gesonderten Verhandlungen die Entbudgetierung zu versprechen und die Bagatellgrenzen anzuheben und damit die Regressgefahr zu minimieren – vermeintlich. Der Virchowbund hält das Vorhaben für ein „vergiftetes Geschenk“, das nur einem was bringt: den Kassen.
„Herr Lauterbach will jetzt die Krankenhäuser für die ambulante Versorgung öffnen, während wir gleichzeitig nicht mehr Patienten behandeln dürfen – das ist doch ein Witz“, regt sich Dalhaus auf. Sie kennt viele Beispiele von Praxen, die ähnliche Probleme haben, wie sie. Und auch von anderer Seite kommt Kritik. „Die Ankündigung, Ärzte von Regressen zu entlasten, ist nicht mehr als eine große Luftnummer. In Wahrheit profitieren nur die Krankenkassen, die in Zukunft Prüfanträge einfach gesammelt stellen können. Dadurch, dass die Einzelprüfung auf Antrag nun betriebsstätten- statt arztbezogen möglich werden soll, wird es für die Kassen noch einfacher, sich ihr Geld zurückzuholen. Sie als Arzt müssen weiterhin zu jeder Position des Prüfantrages Stellung beziehen und haben keine Erleichterung“, erklärt Praxisberaterin Margaret Plückhahn. Die geplante Krankenhausreform setzt laut Dalhaus noch einen drauf. „Ich frage mich wirklich, wie Lauterbach eine isolierte Krankenhausreform machen kann ohne die anderen Sektoren mitzudenken.“
Ihrer Meinung nach müssten alle Beteiligten in dem schwächelnden System zusammenarbeiten, anstatt sich gegenseitig Steine in den Weg zu legen. „Es ist ja meine KV, meine Standesvertretung, sie sollten doch meine Interessen vertreten.“ Genau das hat DocCheck auch die KV selbst gefragt, die den schwarzen Peter direkt in Richtung Kassen schob. „Bei diesen Verfahren haben die Krankenkassen das alleinige Recht zur Prüfung. Das heißt die Kassenärztlichen Vereinigungen dürfen inhaltlich nicht prüfen, sondern müssen diese Regresse an die Praxen weiterreichen. Leider hat die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe damit auch grundsätzlich keinen Einfluss darauf, wie die Krankenkassen diese Prüfung durchführen“, so ein KV-Sprecher.
Ergo: Man weiß, dass man nichts weiß. Auch Dalhaus würde irgendwann ihre Schlüsse ziehen. „Wenn das so weitergeht, mache ich nur noch HZV- oder Privatsprechstunden“, erklärte sie bereits wütend im Video. Im Zweifelsfall müsse man neue Patienten auf legalem Wege dazu bringen, dass sie ausschließlich in der Hausarztzentrierten Versorgung über den Verband abgerechnet werden. „Damit schaufelt sich die KV ihr eigenes Grab.“ Doch so weit will sie es eigentlich nicht kommen lassen – und ist, nachdem die Empörungswellen ihres Videos auch den KV-Vorstand erreichten, zum Austausch gebeten worden. Diese Geschichte ist also noch nicht zu Ende erzählt. Die engagierte Hausärztin würde auch heute wieder so entscheiden und in die Niederlassung gehen. „Denn wer meckert, muss auch mit anpacken, dass sich was ändert und nicht wedducken.“ Damit meint sie sowohl das Gesundheitswesen als auch das Miteinander im Land im Allgemeinen.
Bildquelle: Erstellt mit Midjourney.