Die Zahl der Jugendlichen, die unter Geschlechtsdysphorie leiden, steigt. Besonders auffällig: 80 % sind Mädchen. Warum das ein Dilemma für Ärzte darstellen kann, lest ihr hier.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Das Thema Geschlechtsdysphorie hat im gesellschaftlichen Fokus, aber auch in der Medizin, stark an Präsenz zugenommen. Die Anzahl junger Menschen, deren subjektives Zugehörigkeitsgefühl von ihrem biologischen Geschlecht abweicht, ist enorm gestiegen. Besonders auffällig ist die exponentielle Zunahme junger Mädchen mit geschlechtsbezogenem Identitätskonflikt.
Demnach handelt es sich zu 80 % um Kinder und Jugendliche, denen bei ihrer Geburt ein weibliches Geschlecht zugeordnet wurde, die sich jedoch dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen. Einer US-Studie zufolge hat sich die Anzahl der Mastektomien, die zur Geschlechtsanpassung zwischen dem 12. und 17. Lebensjahr vorgenommen wurden, in der Zeitspanne von 2013 bis 2020 um den Faktor 13 erhöht. In vielen europäischen und angloamerikanischen Ländern liegt der Prävalenzanstieg bei den Transgenderidentitäten seit dem Jahr 2000 bei mehr als 1.000 %.
Die deutsche Bundesregierung hat sich der Thematik angenommen und ein neues Gesetz verabschiedet. Am 21. Juni 2024 wurde vom Bundestag folgende Gesetzesänderung verkündet:
„Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Achtung der Privatsphäre und die Nichtdiskriminierung gehören zu den durch das Grundgesetz garantierten Rechten. Das Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (Selbstbestimmungsgesetz, SBGG) möchte diese Rechte für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen sicherstellen. Dafür wird das veraltete und zum Teil verfassungswidrige Transsexuellengesetz aus dem Jahr 1980 aufgehoben und durch eine einheitliche Regelung ersetzt, mit der Menschen ihren Geschlechtseintrag oder ihre Vornamen per Selbstauskunft beim Standesamt ändern können.“
Demnach können Personen ab 14 Jahren ihren Geschlechtseintrag und ihre Vornamen beim Standesamt ändern lassen. Die Erklärung bedarf der Zustimmung der Sorgeberechtigten. Stimmen diese nicht zu, entscheidet das Familiengericht. Die beiden bisher erforderlichen und voneinander unabhängigen psychologischen bzw. psychiatrischen Gutachten, aus denen klar hervorgehen sollte, dass bei der betreffenden Person eine Transsexualität vorliegt, entfallen zukünftig.
Für eine erneute Änderung gilt eine Sperrfrist von einem Jahr. Die geplante Regelung umfasst ausschließlich die soziale Transition, nicht die Frage nach medizinischen Maßnahmen.
Das neue Selbstbestimmungsrecht hat auf dem 128. Deutschen Ärztetag im Mai zu Diskussionen geführt. Nach Ansicht der Delegierten sollen unter 18-Jährige keine Änderung des Geschlechtseintrags ohne vorherige fachärztliche kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik vornehmen können.
Der Deutsche Ärztetag fordert zudem einen strengeren Umgang mit Pubertätsblockern und geschlechtsangleichenden Therapien bei Minderjährigen. Diese Maßnahmen sollten nur im Rahmen kontrollierter wissenschaftlicher Studien erfolgen. Wichtig sei für eine adäquate Diagnostik und Therapie die Bildung eines multidisziplinären Teams und die Beratung durch eine klinische Ethikkommission.
Die aktuelle medizinische Evidenzlage belege, dass pubertätsblockierende Medikamente und geschlechtsverändernde Therapien weder die Symptomatik noch die psychische Gesundheit in der Adoleszenz verbessern können. Es handele sich um irreversible Eingriffe bei physiologisch primär gesunden Minderjährigen. Daher fordert der Deutsche Ärztetag, das vom Bundestag beschlossene Selbstbestimmungsgesetz zu ändern.
Die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF), ein Zusammenschluss aus 27 Fachbereichen, Dachgesellschaften und Betroffenenorganisationen, bearbeitet im Moment eine entsprechende Leitlinie. Laut AWMF sei besonders der Leidensdruck der betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht außer Acht zu lassen. Die möglichen Folgen müssten individuell abgewogen und auch Minderjährige sollten in die Entscheidungen einbezogen werden. Der finale Abschluss der S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“ wird indes mit Spannung erwartet.
Die Gynäkologin Dr. Gisela Gille, bekannt als Expertin der Initiativen Mädchensprechstunde und Sexualaufklärung an Schulen, empfiehlt bei Geschlechtsdysphorie während der Pubertät genau zu differenzieren. Gemeinsam mit Dr. Alexander Korte, leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LMU München, hat sie sich der Thematik in der Fachzeitschrift Die Gynäkologie angenommen.
Außer Zweifel stehe, dass es sich bei einigen der Manifestationen um eine irreversible, zeitlich überdauernde Geschlechtsidentitätstransposition, d. h. einer transsexuellen Entwicklung, handelt („Ich bin ein Junge“).
Wenn jedoch die Zahlen derjenigen Jugendlichen, die eine Geschlechtsdysphorie angeben, einerseits in den letzten Jahren exponentiell gestiegen sind, andererseits über 80 % davon weiblich sind, dann sollte dies Anlass sein, genau hinzuschauen. Dieser Trend sollte auf die Möglichkeit hin untersucht werden, inwieweit die Trans-Identifizierung insbesondere bei Mädchen auch als maladaptiver Lösungsversuch dienen könnte, um den enormen psychischen Herausforderungen der weiblichen Pubertät auszuweichen („Ich wäre lieber ein Junge“).
Es könnte oftmals eine ausgeprägte Ablehnung des sich verändernden weiblichen Körpers oder der weiblichen Geschlechtsrolle vorliegen, aber kein ausgeprägter Wunsch nach den Körpermerkmalen des anderen Geschlechts bestehen. In diesem Fall sind nicht die umfassenden diagnostischen Kriterien einer klinisch relevanten Geschlechtsdysphorie erfüllt. Im Vordergrund steht die Ablehnung des Frau-Werdens, das mit vielfältigen Nachteilen, Einschränkungen und Überforderung verbunden scheint.
Wenn es bei einem Großteil der betroffenen Mädchen keine Hinweise auf eine Vorgeschichte geschlechtsinkongruenten Erlebens in der Kindheit gibt, aber das Problem überraschend mit der Pubertät auftaucht, mache das nachdenklich. Inwiefern die aktuelle mediale Aufmerksamkeit einen Einfluss auf die exponentielle Zunahme von Geschlechtsdysphorie in der Adoleszenz hat, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen.
Es geht um die äußerst sorgfältige Abwägung, ob es sich bei einer in der Pubertät zeigenden Geschlechtsdysphorie um eine passagere Identitätsverunsicherung handelt oder ob tatsächlich eine persistierende Geschlechtsidentitätstransposition vom transsexuellen Typus vorliegt.
Ein homoerotisches Durchgangsstadium ist bei Mädchen während der Pubertät nicht untypisch. Hierbei würde eine frühzeitige Festlegung durch eine soziale Transition oder mittels pubertätsblockierender Maßnahmen eine eventuelle homosexuelle Identitätsfindung erschweren, was die beiden Autoren zu bedenken geben.
Speziell Mädchen mit Missbrauchserfahrungen würden dauerhaft mit der Spaltung zwischen ihrem Selbst und ihrem weiblichen Körper kämpfen. Es gilt auch hier, kompensatorische Reaktionsmuster von tatsächlichen Transidentifizierungen zum Wohl der Betroffenen zu unterscheiden.
„Wenn der Eindruck besteht, dass hinter der Genderdysphorie einer jugendlichen Patientin mehr als eine pubertäre Entwicklungskrise steckt, sollte der Kontakt zu einer spezialisierten psychiatrisch-psychotherapeutischen Einrichtung gebahnt werden, denn die Indikationsstellung erfordert ein hohes Maß an fachlicher Expertise. Gilt es doch, zunächst die Vielfalt möglicher Ursachen für die Körper- und Geschlechtsdysphorie sorgfältig auszuloten und die Identifikationsschablone „trans-kid“ nicht übereilt zu bedienen“, so das Resümee der Autoren.
Das neue Selbstbestimmungsgesetz wird kontrovers diskutiert. Experten raten zu einer primären fachärztlichen Diagnostik und sorgfältigen Beratung, um bei einer Geschlechtsdysphorie einen vorübergehenden Pubertätskonflikt von einer dauerhaften Transidentifizierung zu unterscheiden. Letztere muss zum Wohl der Betroffenen einer adäquaten Therapie zugeführt werden. Eine verfrühte soziale und medizinische Transition ohne vorausgehende Diagnostik könnte allerdings mehr schaden als nutzen.
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
Bildquelle: Gabriel Ponton, Unsplash