Ob Schütteltraumata, Frakturen oder Hämatome: Jahr um Jahr steigt die Anzahl an Kindesmisshandlungen. Der Kinderschutz-Preisträger Dr. Oliver Berthold erklärt, auf welche Zeichen Mediziner achten sollten und warum das nicht nur Pädiater betrifft.
INTERVIEW | 63.700 Fälle von Vernachlässigung, sexualisierter Gewalt und körperlicher oder psychischer Misshandlung fanden im letzten Jahr gegenüber Kindern statt. Das sind 2 % mehr als im Jahr zuvor und gleichzeitig der jemals registrierte Höchststand. Zudem konnten nicht alle Jugendämter ihre Daten melden – Experten schätzen den tatsächlichen Anstieg auf 7,6 %. Ebenso traurige Wahrheit: Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Welche Rolle Ärzte beim Kinderschutz spielen können, beantwortet Dr. Oliver Berthold.
Fälle von Kindeswohlgefährdung im Verlauf. Credits: Destatis 2024
DocCheck: Herr Dr. Berthold, Sie engagieren sich im medizinischen Kinderschutz, haben dafür den Kroschke-Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin erhalten. Wann und wie sind Sie auf das Thema aufmerksam geworden?
Dr. Oliver Berthold: Zum Kinderschutz bin ich gekommen, weil ich zunächst Berührungsängste zum Thema hatte. Ich war vielfach einfach unsicher – vor allem wenn ich Kontakt zu Kindern hatte, bei denen Misshandlungsverdacht bestand. Die Unsicherheit habe ich bekämpft, indem ich mich – seit 2014 – intensiv damit auseinandergesetzt habe. Zunächst habe ich das Zertifikat und damit die Zusatzbezeichnung Kinderschutzmediziner erlangt.
Sie sind bereits pädiatrisch tätig gewesen, woher kam die Verunsicherung? Könnte es anderen Kollegen auch so gehen?
Ich selbst bin, bis ich mich proaktiv damit auseinandergesetzt habe, fast gar nicht mit dem Thema in Kontakt gekommen. Weder im Rahmen des Studiums noch wurde es systematisch in der Facharztweiterbildung angegangen. Oftmals weiß man nur über die Zahlen Bescheid und dass es eine große Dunkelziffer gibt. Hier müsste man definitiv nacharbeiten, das Thema ins Curriculum einbinden und auch nicht-pädiatrisch tätige Kollegen abholen, um sich spezifisch Indizien bewusst zu werden und damit sich diese auch gewappnet fühlen, wenn sie einen solchen Fall in der Praxis haben.
Worum geht es im medizinischen Kinderschutz?
Kinderschutz in der Medizin hat einen stark präventiven Charakter. Zentral ist, dass wir zu erkennen versuchen, wann Kinder von Misshandlungen und Vernachlässigung betroffen sind. Unsere Frage lautet: „Ist die Situation, in der sich das Kind befindet, eine akute Gefahr oder ein Risiko für die Entwicklung des Kindes?“ Sicher gibt es dann auch einen großen Graubereich, beispielsweise zu viel Medienkonsum, ungesunde Ernährung oder andere schwer messbare Faktoren. Auch dies kann die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen und z. B. zu Adipositas führen. Es geht dann aber darum, gemeinsam mit den Eltern eine Lösung zu finden. Man kann aufklären, Mittel und Wege aufzeigen und auch mögliche Konsequenzen formulieren, die weiterer Konsum für das Kind hätte. Das weit überwiegende Gros der Eltern hat Interesse, dass jene Konsequenzen nicht eintreten.
Schwierig, wenn die medizinische Einschätzung damit auch in die Erziehung eingreift. Gibt es Graubereiche, in denen Sie tätig werden würden?
Wenn ich sehe, dass Eltern wirklich ihr Möglichstes unternehmen, Empfehlungen angehen, sich eine Beratung holen, sozusagen all die möglichen Therapieoptionen, die es gibt, gegen Adipositas auch wahrnehmen, dann ist das erst mal adäquat und trotzdem nicht zu 100 % von Erfolg gekrönt. Wenn ich aber sehe, dass die Eltern noch nicht mal den Versuch unternehmen, warum auch immer, ob sie es nicht für notwendig halten oder ob sie die Ressourcen nicht haben, dann bin ich schon der Meinung, braucht dieses Kind sozusagen zusätzliche Unterstützung, weil ihm sonst Chancen verlorengehen, gesund zu werden, die die Eltern nicht bieten können. Dennoch ist es auch da noch mal wichtig zu erwähnen, dass man eben nicht über eine Schuld spricht, sondern zu sagen: „Okay, dieses Kind hat ein Gesundheitsproblem, die Eltern sind nicht willens oder in der Lage, sich darum adäquat zu kümmern. Das müssen wir nun unterstützen.“
Das klingt nach Situationen, die geklärt werden können. Wie steht es um gefährlichere Fälle?
Genau – anders sieht es aus, wenn wir akute Gefahren vermuten und man nicht auf einen Folgetermin warten kann, um zu sehen, ob sich Situationen bessern. Hier denke ich beispielsweise an Frakturen oder Hämatome bei Säuglingen und Kleinkindern, die sich auch noch nicht artikulieren können und bei denen solche Verletzungen eigentlich nicht vorkommen können, wenn sie unter Aufsicht sind. Diese Situationen müssen sorgfältig abgeklärt werden.
Beim Thema Gewalt gegen Kinder denkt man schnell an sexualisierte Gewalt. Welchen Raum nimmt dieses Thema ein?
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder erhält medial starke Aufmerksamkeit – meist sind es aber eher die monströsen Einzelfälle, die in den Medien vorkommen. Weitaus häufiger sind Übergriffe im sozialen Nahfeld der Kinder. Häufig gibt es keine körperlichen Befunde, die wegweisend wäre, entscheidend sind Äußerungen der Kinder. Es wäre daher sinnvoll, Kindern auch bei Vorsorgeuntersuchungen den Rahmen zu geben, etwas zu besprechen, das sie im Beisein der Eltern nicht besprechen würden. Das betrifft nicht nur die sexualisierte Gewalt. Hier wäre ab dem Schulalter sinnvoll, Kindern auch mal ohne Eltern ein Gespräch anzubieten.
Eine aktuelle Destatis-Auswertung untermauert die ärztliche Einschätzung:
Kindeswohlgefährdung nach Tätergruppe. Credits: Destatis 2024
Wie reagiert man angesichts steigender Zahlen und der Verortung der Misshandlungen. Ruft man da als Arzt sofort das Jugendamt?
Man kann keine pauschale Aussage machen, wie schnell und oft wir mit dem Jugendamt interagieren. Das hängt auch stark davon ab, was ich vermute, was für eine Gewalt von den Eltern ausgeht. Eigentlich bin ich immer zunächst um Konsens, Kommunikation und Aufklärung bemüht. Funktioniert das aber nicht, könnte man eher festhalten, dass wir schneller am Hörer sind je jünger und abhängiger – sowohl körperlich als auch emotional – das Kind ist. Hinweise auf eine onkologische Erkrankung bei einem Säugling würden wir ebenso wenig auf die lange Bank schieben – mit Hinweisen auf eine Misshandlung sollte man das ebensowenig tun.
Als Kinderarzt kommen Sie mit entsprechenden Fällen vergleichsweise oft in Kontakt. Von welchen Kollegen wissen sie noch, dass sie mit dem Thema konfrontiert sind?
Neben uns Kinderärzten sind es häufig die Zahnmediziner, die Patienten haben, bei denen der Verdacht einer Vernachlässigung oder Gewalt im Raum stehen. Auch von dieser Seite werden wir dann angerufen, wenn Traumafolgen im Mund festgestellt werden, die aber zu keiner adäquaten Anamnese passen oder wenn ein Gebiss massiv kariesgeschädigt ist. So etwas entsteht nicht über Nacht. Gleiches gilt auch für Gynäkologen, die beispielsweise schwangere Minderjährige in der Praxis haben.
Sie sagten, es brauche mehr Aufmerksamkeit und Raum für das Thema in der medizinischen Ausbildung. Was raten Sie Kollegen, die bereits tätig sind?
Mein Appell an die Kolleginnen und Kollegen ist ganz klar: Hört auf euer Bauchgefühl – vor allem, wenn euch etwas komisch vorkommt. Drückt das nicht weg, habt keine Angst davor, lasst euch beraten. Auch wenn die Gespräche mit den Eltern der Kinder schwierig bis konfrontativ sein können – wichtig ist es auch, keine Schuldzuweisung zu machen. Es geht letztlich um die Klärung wichtiger gesundheitlicher Fragen. Auf der anderen Seite nützt es nichts, den Appell nur an die Ärzteschaft zu richten. Wir brauchen genauso eine funktionierende, gut ausgestattete Kinder- und Jugendhilfe und Ämter, die unseren Verdachtsfällen nachgehen können. Wir können mit dem medizinischen Kinderschutz nur wirksam sein, wenn es auf der anderen Seite eine Kinder- und Jugendhilfe gibt, die die notwendigen Interventionen finanzieren und durchführen kann.
Einen Weg zur Hilfe im Beruf bieten Sie selbst. Was tun Sie genau?
Genau, wir haben mit der Medizinischen Kinderschutzhotline ein Kooperationsprojekt aufgestellt, dass Fachkräften aus dem Gesundheitswesen eine ärztliche Beratung 24/7 zur Verfügung stellt. Da kann es dann z. B. darum gehen, dass im Rettungsdienst eine völlig verwahrloste Wohnung auffällt, in der sich Kleinkinder aufhalten oder bei der Kinderärztin ein Kind seit Längerem Verhaltensauffälligkeiten oder Zeichen der Vernachlässigung zeigt. Ebenso kann es darum gehen, einzuschätzen, ob Verletzungen plausibel erklärt werden.
Wir danken für das Gespräch.
Bildquelle: Erstellt mit Midjourney.