Mentale Gesundheit nach einer Prostatakrebs-Diagnose ist ein Thema, das oft unter den Tisch fällt – aber eigentlich ins Rampenlicht gehört. Warum das so wichtig ist und wie du Männer besser unterstützen kannst.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Seit 2003 steht der November im Zeichen der Gesundheitsversorgung, Krebs- und Suizidprävention für Männer. Im „Movember“ – ein Wortspiel aus „Moustache“ und „November“ – lassen sich weltweit Männer einen Schnurrbart wachsen, um auf gesundheitsrelevante Themen aufmerksam zu machen, zu denen Männer erschwert einen Zugang finden und somit oft vernachlässigt werden. Die mentale Gesundheit bei Krebserkrankungen ist einer dieser Beispiele.
Weltweit erkranken knapp 1,4 Mio. Personen an einem Prostatakarzinom jährlich. Das sind 1,4 Millionen Menschen, deren mentale Gesundheit mehr Aufmerksamkeit verdient. Um mehr Bewusstsein zu schaffen, beschäftigen wir uns im Folgenden mit den Aspekten von Prostatakarzinom-Erkrankten.
Das Prostatakarzinom ist zwar weniger „sichtbar“ als andere Krebserkrankungen, bringt jedoch potentiell stigmatisierende „intimere“ Folgen mit sich. Bei einer 5-Jahres-Überlebensrate von über 90 % leben die Patienten lange mit den Folgen des Karzinoms und der Therapie sowie mit der einhergehenden reduzierten Lebensqualität. Bis zu 17 % der Patienten erkranken an einer Depression oder Angststörung. Bei Patienten mit High-Risk-Karzinomen wird der Anteil je nach Literatur sogar auf 80 % geschätzt. Mentale Gesundheit bedeutet jedoch mehr als eine klinische Diagnose.
Sozial konstruierte maskuline Normen in der Gesellschaft erschweren es Männern oftmals, über ihre Symptome zu sprechen. Die Diagnose selbst wird als peinlich und stigmatisierend empfunden.
Stigmatisierungen von Krankheiten haben einen großen Effekt auf die Gesundheit. Sie kann dazu führen, dass Patienten keinen Zugang zu medizinischer und psychologischer Hilfe aufsuchen, ein geringes Selbstbewusstsein ausbilden, ihre Karzinom-spezifische Therapie nicht einhalten, psychologischen Stress wahrnehmen und stärkere Krankheitssyndrome empfinden. Das Erleben von Stigmatisierung wirkt sich zudem negativ auf die Lebensqualität und die Selbstwirksamkeit aus und betrifft das Leben der Patienten und den Personen, die sich um diese sorgen.
Das involvierte medizinische Personal spielt eine große Rolle in der Entwicklung von Stigmatisierungen, so Larkin et al. in einem Review. Geringe ärztliche Empathie führt zu erhöhter gefühlter Stigmatisierung sowie Angststörung und wirkt sich negativ auf die Selbstwirksamkeit aus.
Somatische Folgen der Krebstherapie beeinträchtigen die mentale Gesundheit ebenfalls. So tragen Kontinenzprobleme und erektile Dysfunktion zu geringerem Erleben von Intimität mit sich selbst und in der Partnerschaft bei. Fehlende soziale Unterstützung, Isolierung und Einsamkeit, Fatigue sowie Schlafstörung und Bereuen und Hadern mit der Therapieentscheidung führen zur Unzufriedenheit.
Patienten berichten von Veränderungen im Körper, wie Gewichtszunahme oder -verlust, Muskelmassenschwund, Wachstum der Brust, Hitzewallungen mit vermehrtem Schwitzen, Lymphödem, optisch verkleinertem Penis nach radikaler Prostatektomie (rPx), Energieverlust und Müdigkeit. Die internalisierte Stigmatisierung, die Veränderungen im Körper, sowie die sexuellen Funktionsstörungen lösen das Gefühl des Verlusts der Männlichkeit bei einigen Patienten aus.
Depression und niedrige mentale Gesundheit bei Prostatakarzinomen erhöhen das Risiko für Suizide um das Zweifache. Vyas et al. und Massoeurs et al. untersuchten in Studien Prädiktoren, die sich negativ auf die psychosoziale Verfassung auswirken. Das sind: Junges Alter, niedriges Einkommen, Rauchen, hoher Alkoholkonsum, Unzufriedenheit in der Beziehung, Multimorbidität und das Vorliegen einer Depression oder Angststörung in der Anamnese sind Prädiktoren für psychologische Probleme. Das Erleben von Spiritualität und Emotionalität wirken dagegen protektiv.
Inkonsistente Ergebnisse zeigen sich im Zusammenhang mit der Therapieart. Massoeurs et al. merken an, dass Patienten nach Radiatio und Hormontherapie weniger von psychischen Problemen betroffen sind, als Patienten nach rPx und Active Surveillance (AS). Letzteres klingt überraschend, da diese Patienten ein geringes Risiko eines Tumorprogresses und damit verbundenes Sterberisiko haben, verglichen mit den Patienten unter aktiver Therapie. Die Autoren vermuten, dass Patienten das Gefühl bekommen, aktiv „nichts“ gegen den Krebs tun zu können und einen Verlust der Kontrolle und Selbstwirksamkeit zu erleiden.
Patienten nach rPx haben eine längere Rehabilitationsphase und leiden an den somatischen Folgen der Operation. So zeigte sich bei Inkontinenz ein fünffach erhöhtes Risiko psychische Probleme zu entwickeln.
Vyas et al. fanden in ihrem Review ein 41 % erhöhten Risiko für Depression bei Patienten unter ADT-Therapie. Nur ein kleiner Zusammenhang ergab sich zwischen niedriger mentaler Gesundheit und AS/rPx. Das Karzinomstadium, der Gleason-Score oder die Höhe des PSA zeigte sich in der Studie nicht mit dem Vorhandensein von Depression assoziiert. Crump et al. fanden ein höheres Risiko eine Depression zu entwickeln unter Patienten mit High-Risk-Karzinomen.
Insgesamt zeigt sich eine große Variabilität in der Studienlage. Zukünftig großangelegte Kohortenstudien sind notwendig, um ein besseres Verständnis der Prädiktoren zu erlangen. Patienten mit höherem psychosozialen Risiko können so besser im medizinischen Alltag detektiert werden, um ihnen gezielt eine frühzeitig präventive oder interventionelle Hilfe zukommen zu lassen.
Bislang erscheint die psychosoziale Nachsorge von Patienten nach der Therapie oder unter AS unstrukturiert. In den letzten Jahren wurden diverse Maßnahmen erprobt. So zeigten sich strukturierte Trainingsprogramme als effektiv, psychosoziale Probleme zu mildern. Sport fördert das Selbstbewusstsein und empowert die Patienten. Es stellt einen Zufluchtsort da und gibt das Gefühl der Kontrolle zurück. Der Zugang zu strukturierten Programmen kann durch die Angst vor Verletzungen und fehlender Selbstwirksamkeit bei Patienten erschwert sein.
Andere Interventionen wie z. B. kognitive Verhaltensweisen und Kommunikationstraining zeigen leichte, aber inkonsistente Verbesserungen im Bezug auf die mentale Gesundheit, Beziehungen, Sexualität, Fatigue und Lebensqualität. Psychotherapie erwies sich als wirksam, um Angststörung, Schlafqualität und das Leben der Patienten zu verbessern. Die American Cancer Society empfiehlt ein jährliches Screening auf Depression unter Patienten mit Prostatakarzinom. Positiv gescreente Patienten sollen eine psychotherapeutische Anbindung erhalten.
Psychosoziale Probleme verschlechtern die Lebensqualität und das Langzeit-Outcome der Erkrankung. Es kann zur Non-Compliance in der Therapie, vermehrter Beanspruchung der Notfallversorgung und zu Suiziden führen.
Ein Umdenken des gesellschaftlich erschaffenen Konstrukts der Maskulinität und die Entstigmatisierung von Sexual- und Kontinenzproblemen können den Weg zu Hilfsangeboten und Gesprächen erleichtern. Strukturierte psychologische Nachsorge mit Screening und Schulung des versorgenden Gesundheitspersonals, Patienten mit Risikogefährdung zu erkennen, stellen Maßnahmen dar. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Urologie, Onkologie, Schmerz-, Psycho- und Physiotherapie ist essentiell. Die Einbeziehung von Angehörigen kann hilfreich sein.
Letztlich bedarf es ebenso an mehr personellen und zeitlichen Ressourcen,um alle gefährdete Patienten aufzufangen und strukturierte Nachsorgeprogramme zu entwickeln und umzusetzen.
Zusammenfassung für Eillige
Stigmatisierung und Männlichkeit: Traditionelle Männlichkeitsbilder und Stigmatisierung erschweren es Männern mit Prostatakrebs, über ihre Sorgen zu sprechen und Unterstützung zu suchen.
Gesundheitsrisiken: Kontinenz- und Erektionsprobleme, Muskelschwund, Hitzewallungen und Gewichtszunahme beeinträchtigen Körperbild und Selbstbewusstsein; besonders hohes Risiko für Depressionen und Suizid bei Patienten mit Hormontherapie und high-risk Karzinomen.
Nachsorgebedarf: Notwendigkeit eines strukturierten Nachsorgeprogramms mit Psychotherapie, Trainingsprogrammen und Selbstwirksamkeitsstrategien.
Quellen:
Wang et al. Prostate Cancer Incidence and Mortality: Global Status and Temporal Trends in 89 Countries From 2000 to 2019. Front Public Health, 2022 doi: 10.3389/fpubh.2022.811044
Larkin et al. A systematic review of disease related stigmatization in patients living with prostate cancer. PLoS ONE, 2022. doi: 10.1371/journal.pone.0261557
Massoeurs et al. Psychosocial and Functional Predictors of Mental Disorder among Prostate Cancer Survivors: Informing Survivorship Care Programs with Evidence-Based Knowledge. Curr Oncol, 2021. doi: 10.3390/curroncol28050334
Kelmendi et al. Preferences for Tailored Support - Patients' and Health Care Professionals' Experiences Regarding Symptoms and Self-Management Strategies During the First Year After Curatively Intended Prostate Cancer Treatment. Patient Prefer Adherence, 2024. doi: 10.2147/PPA.S440689
Christie et al. A Systematic Review of the Association between Psychological Resilience and Improved Psychosocial Outcomes in Prostate Cancer Patients. Could Resilience Training Have a Potential Role? World J Mens Health, 2024 doi: 10.5534/wjmh.230319
Vyas et al. Prognostic factors for mental wellbeing in prostate cancer: A systematic review and meta‐analysis. Psychooncology, 2023. doi: 10.1002/pon.6225
Crump et al. Long-term Risks of Depression and Suicide Among Men with Prostate Cancer: A National Cohort Study. European Urology, 2023 doi: 10.1016/j.eururo.2023.04.026.
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