Die Amyloid-Hypothese ist seit jeher umstritten. Eine neue Studie stellt nun eine andere These zur Alzheimer-Ursache auf. Sollte sich diese bestätigen, wäre die jahrzehntelang vorherrschende Theorie in Frage gestellt.
Alzheimer ist eine der gefürchtetsten Diagnosen überhaupt, weshalb die Zulassung neuer Therapien bei Millionen von Menschen Hoffnung weckt. Kürzlich wurden in den USA zwei Antikörpertherapien, die das Gehirn von Amyloid-Ablagerungen befreien, zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit im Frühstadium zugelassen. Beide Medikamente, Lecanemab und Donanemab, zeigten in den Zulassungsstudien eine Verzögerung des Krankheitsverlaufs. Auch wenn die Effektgröße nicht überwältigend und die Therapie mit erheblichen Risiken verbunden ist, handelt es sich um die erste krankheitsmodifizierende Alzheimer-Therapie überhaupt. In Deutschland sind die neuen Antikörper zwar noch nicht verfügbar (DocCheck berichtete), aber es ist davon auszugehen, dass über kurz oder lang auch ein Amyloid-Antikörper von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA zugelassen wird.
Die Entstehung der Alzheimer-Krankheit wird häufig mit der Amyloid-Hypothese erklärt. Diese besagt, dass die Anhäufung von Amyloid-β im Gehirn der erste Schritt einer zerstörerischen Kaskade ist, die schließlich zum Absterben von Nervenzellen und zu den klinischen Symptomen einer Demenz führt. Durch einen gestörten Abbau verklumpt das Amyloid-β und lagert sich in extrazellulären Plaques ab, die in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten zu finden sind.
Im nächsten Schritt kommt es zur Ablagerung eines weiteren schädlichen Proteins, des Tau-Proteins, das sich im Inneren der Nervenzellen ansammelt und schließlich zum Zelltod führt. Man kann sich das Gehirn wie eine Stadt vorstellen, in der sich Müll ansammelt, der nicht mehr entsorgt wird. Amyloid-β ist wie dieser Müll, der sich in den Straßen ansammelt, bis die Stadt irgendwann im Chaos versinkt. Nach dieser Hypothese liegt es nahe, die Bildung der Amyloid-Plaques und damit die Entstehung der Alzheimer-Krankheit bereits am Anfang der Kaskade zu verhindern.
Dementsprechend hat sich die Alzheimer-Forschung in den letzten Jahrzehnten zum großen Teil darauf konzentriert, eine Amyloid-Müllabfuhr zu entwickeln. Dabei gab es viele Rückschläge: Zwar ist es gelungen, das Gehirn medikamentös von den Amyloid-Plaques zu befreien, doch hat sich dies oft nicht in einem klinischen Nutzen für die Betroffenen niedergeschlagen. Während die Gehirne durch die experimentellen Therapien fast vollständig von Amyloid-Ablagerungen befreit wurden, schritt die Demenz dennoch unaufhaltsam voran – die Betroffenen hatten keinen Nutzen von der Amyloid-Reinigung.
Eine mögliche Erklärung für diese Misserfolge ist, dass man mit der Amyloid-Bekämpfung immer zu spät kam. Von der Bildung der ersten Amyloid-Ablagerungen bis zum Auftreten der Alzheimer-Symptome können bis zu 30 Jahre vergehen. Von außen sieht man einem Menschen aber nicht an, ob sich in seinem Gehirn bereits erste Amyloid-Plaques gebildet haben. In neueren Studien wurde deshalb versucht, das Amyloid möglichst früh im Krankheitsverlauf zu entfernen. Dieser Ansatz hat bei den beiden Amyloid-Antikörpern Lecanemab und Donanemab zum Erfolg geführt – das Fortschreiten der Demenz konnte signifikant verzögert werden.
Es sieht also so aus, als ob sich die beharrliche Arbeit im Kampf gegen das Amyloid gelohnt hat. Nach der Amyloid-Hypothese könnten in Zukunft viele Menschen vor der gefürchteten Demenz-Diagnose bewahrt werden, wenn die Amyloid-Antikörper weiter verbessert und auch die diagnostischen Möglichkeiten erweitert werden, etwa durch Bluttests zur Früherkennung der Alzheimer-Krankheit. Doch nicht alle sind davon überzeugt, dass die Fokussierung auf die Bekämpfung von Amyloid der richtige Ansatz ist.
Die Amyloid-Hypothese war von Anfang an umstritten, und auch mit den ersten Erfolgen der Amyloid-Antikörper ist die Kritik nicht verstummt. Einer der bekanntesten Amyloid-Kritiker ist Prof. Alberto Espay von der University of Cincinnati, Neurologe und Wissenschaftler mit Schwerpunkt auf neurodegenerativen Erkrankungen. Er weist seit langem darauf hin, dass die Fachwelt mit ihrem Fokus auf toxische Proteine in eine Sackgasse geraten ist und dass Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson auch durch den Funktionsverlust wichtiger Proteine ausgelöst werden können. Statt sich auf die Bekämpfung vermeintlich schädlicher Proteine zu konzentrieren, sollte man seiner Meinung nach darüber nachdenken, wie man die physiologische Funktion von Proteinen wiederherstellen kann.
Wissenschaftler um Espay haben kürzlich eine Studie veröffentlicht, in der sie herausgefunden haben, dass es neben der Bekämpfung von Amyloid noch eine weitere mögliche Erklärung für den Erfolg der Amyloid-Antikörper gibt. Sie gingen der Beobachtung nach, dass die Behandlung mit den Antikörpern nicht nur die Amyloid-Plaques im Gehirn reduziert, sondern auch die Konzentration der Unterform Amyloid-ꞵ42 im Nervenwasser erhöht. Für die Studie wurden die Daten von Teilnehmern aus 24 Einzelstudien zur Anti-Amyloid-Therapie mit insgesamt knapp 26.000 Studienteilnehmern ausgewertet. Die Analyse zeigte, dass der positive Effekt der Therapien mit dem Anstieg von Amyloid-ꞵ42 im Nervenwasser assoziiert war. Je höher die Proteinkonzentration, desto besser ließ sich der Krankheitsverlauf aufhalten. Der Anstieg der Amyloid-ꞵ42-Konzentration konnte die Verzögerung des Krankheitsverlaufs ebenso gut erklären wie die Reduktion der Amyloid-Plaques.
Worauf die Therapieeffekte letztlich beruhen, ist also auch durch die neue Studie nicht geklärt. Sie zeigt aber, dass es neben der klassischen Amyloid-Hypothese noch andere mögliche Erklärungsmodelle für die Entstehung der Alzheimer-Krankheit und die Erfolge der Amyloid-Antikörper gibt. Was, wenn sich die Alzheimer-Forschung in den letzten Jahren auf das falsche Ziel konzentriert hat? Was, wenn die Antwort auf Alzheimer nicht in der Beseitigung der Amyloid-Plaques liegt, sondern in einem ganz anderen, bisher übersehenen Mechanismus? Die Ergebnisse der Studie werfen solche Fragen auf und könnten die Behandlung der Alzheimer-Krankheit grundlegend verändern. Sollten zukünftige Studien weitere Belege für den alternativen Erklärungsansatz liefern, wäre ein radikales Umdenken in der Alzheimer-Forschung notwendig.
Quelle:
Abanto et al. Increases in amyloid-β42 slow cognitive and clinical decline in Alzheimer’s disease trials. Brain, 2024. doi: 10.1093/brain/awae216
Bildquelle: Susan Q Yin, Unsplash