Nach einem Skiunfall mit Rückenmarksverletzung leidet Herr S. an einer Blasenentleerungsstörung. Weil Medikamente nichts nützen, kommt er unters Messer. Wie die Ärzte seine Blase wieder auf Trab bringen, erfahrt ihr hier.
Wir stehen an einem Mittwoch um 10 Uhr morgens im Operationssaal 4 und operieren Herrn S. Der Patient liegt in Rückenlage. Team-Time-Out. Schnitt. Das Os Sacrum ist nicht abgedeckt. Wir ertasten die rechtsseitigen sakralen Foramina. Mein Oberarzt bringt eine Kanüle auf Höhe S3 ein. Der Testimpulsgeber wird nun an die Kanüle angeschlossen und es erfolgt die elektrische Stimulation des Sakralnervs. Bingo! Der Beckenboden zuckt. Über Seldingertechnik implantiert er nun die Testelektrode. Die Drähte der Elektrode schließen wir an den externen Schrittmacher an. Der Patient wird diesen später in der kleinen Tasche am Rücken befestigt bekommen.
An diesem Morgen durfte ich beim ersten Schritt einer sakralen Neuromodulation dabei sein.
Herr S. leidet seit einem Jahren nach einer inkompletten Rückenmarksverletzung auf Höhe Th9 nach Skiunfall an einer „neurogenen Blase“ oder neurogenen Blasenentleerungsstörung. Heute besser bezeichnet als neurologische Dysfunktion des unteren Harntraktes (NLUTD) schließt es alle Blasenentleerungs- und Speicherstörungen ein, die eine neurologische Ursache haben.
Bei unserem Patienten liegt eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) vor. Es treten unwillkürliche Kontraktionen des Detrusors auf, während der externe Sphinkter ebenfalls kontrahiert ist. Die Koordination zwischen Füllungsphase (Detrusor entspannt, Sphinkter kontrahiert) und Entleerungsphase (Detrusor kontrahiert, Sphinkter entspannt) ist gestört. Dies führt zum verzögerten Start der Miktion, zur unwillkürlichen Unterbrechung der Miktion, zur Überlaufinkontinenz, zu Pollakisurie und zu hohem Blasendrücken. Letztere lösen langfristig bei ca. 50 % der Patienten unbehandelt den Verlust der Blasencompliance, einen vesikorenaler Reflux, eine Urolithiasis und Nierenschädigung aus.
Bei Rückenmarksverletzungen kommt es während des spinalen Schocks zum Harnverhalt mit Überlaufblase. Nach Wochen bis Monaten kann sich dann eine DSD oder Detrusorüberaktivität entwickeln. Nach einer Rückenmarksverletzung wird empfohlen, nach 3–6 Monaten ein urologisches Assessment durchzuführen. Eine neurogene Blasenentleerungsstörung entwickelt sich schnell und kann in Patienten, die zunächst asymptomatisch erscheinen, auftreten. Bei traumatischen Ereignissen ist das Risiko höher, einen konsekutiven Harnstau zu entwickeln als bei langsam progredienten Ursachen.
Neben der Rückenmarksverletzung können Multiple Sklerose, Meningozelen, transverse Myelitits sowie Multisystemathrophie ursächlich sein.
Zur Einteilung der NLUTD liegen zahlreiche Klassifikationen vor. Zwecks Übersichtlichkeit beschränken wir uns auf folgende Formen:
Die Höhe der Schädigung (z. B. pontin, spinal, sakral) kann Hinweise auf die Form der NLUTD geben. In der Praxis kommen oft Mischformen vor, sodass die genaue Einteilung schwierig ist. Für die Diagnosestellung ist es wichtig, obstruktive Ursachen auszuschließen. Oft kommt neben der NLUTD auch eine benigne Prostatahyperplasie dazu. Die neurologische Läsionshöhe bestimmt das Funktionsmuster des unteren Harntrakts (adaptiert nach Panicker et al., Lancet Neurol 2015): Suprapontine Läsion: Detrusorüberaktivität (kein Restharn, da synerge Miktion); spinale Läsion (infrapontin bis suprasakral): Detrusorüberaktivität und Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (Restharn, da dyssynerge Miktion); sakrale/infrasakrale Läsion: hypokontraktiler/akontraktiler Detrusor (Restharn, da Detrusorkontraktionskraft eingeschränkt). Credit: Leitlinie Diagnostik und Therapie von neurogenen Blasenstörungen.
Herr S. wandte sich vor neun Monaten mit einer Überweisung von seinem Hausneurologen an uns. Einige Wochen nach seinem Unfall trat eine Überlaufinkontinenz auf. Versuchte er zu miktionieren, gelänge das erst nach zwei Minuten. Er hätte das Gefühl, die Blase nicht leer zu bekommen. Dysurie, Flankenschmerzen oder Fieber wurden verneint. Sonografisch zeigte sich ein Restharn von 170 ml. Die Nieren waren ungestaut. Die Prostata wurde transabdominal auf 26 ccm gemessen. Dem Patienten wurde aufgetragen, für 4–5 Tage ein Miktionstagebuch zu führen und sich in drei Wochen zur weiteren Diagnostik vorzustellen.
Zur typischen Diagnostik der NLUTD gehören neben Anamnese, Sonografie, Laborkontrolle (v. a. Kreatinin, GFR) und Urinuntersuchung, ein Uroflow sowie eine Urodynamik ggf. mit Beckenboden-EMG.
Bei Herrn S. lag die maximale Flussrate bei 9 ml/s. Bei Patienten mit normaler Miktion sollte sie über 15 ml/s betragen. Im Flussmuster zeigte sich eine verzögerte Miktion und ein intermittierender Verlauf. In der Urodynamik kam es in der Füllungsphase zu einer erhöhten Detrusorkontraktion und während der Miktion zum erhöhten Sphinkterdruck.
Beim überaktiven Detrusor zeigen sich variable Flussraten im Uroflow, mit kleinen Urinvolumen sowie unwillkürlichen Druckspitzen während der Miktion und erhöhte Detrusoraktivität während der Füllungsphase. Hohe Flussraten sowie ein niedriger intravesikaler Druck kommen beim hypoaktiven Sphinkter vor, Restharn ist für die Form nicht typisch. Beim hypoaktiven Detrusor hingegen sind lange Flussraten und flachverlaufende Druckkurven zu erwarten.
Ziel ist es, zunächst eine Retention zu vermeiden und die Nierenfunktion zu schützen, sowie die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Therapiert wird abhängig von der Art der Dysfunktion.
Herr S. erhielt zunächst eine Verordnung von Oxybutynin. Andere Anticholinergika wie Tolterodin, Fesoterodin oder Trospiumchlorid können ebenso eingesetzt werden. Der Patient entwickelte unter der Medikation hohe Restharnmengen, sodass wir auf den Beta-3-Adrenorezeptor-Agonisten Mirabegron umstellten. Dies bewirkt ebenso eine Relaxation des Detrusors, führt jedoch zu weniger Nebenwirkungen. Leichte Anstiege der Herzfrequenz und des Blutdrucks wurden beobachtet.
Weitere Therapiemöglichkeiten der NLUTD sind Blasen- und Beckenbodentraining, Biofeedback, Einmalkatheterismus, Therapie mit Alphablockern (beim hypoaktiven Sphinkter), intravesikale Elektrotherapie sowie perkutane tibiale Nervenstimulation. Radikalere operative Therapiemöglichkeiten wie eine komplette Sphinkterotomie, Harnblasenaugmentation oder die Harnableitung über ein Ileumconduit sollten als Ultima Ratio angesehen werden.
Die Reflex-getriggerte Miktion durch z. B. Valsalva- oder Credé-Manöver gelten als obsolet. Bei höheren Läsionen kann der zusätzliche Druck den Blasendruck erhöhen und zur Harnstauung in den Nieren führen.
Nach drei Monaten unter der Medikation mit Mirabegron berichtete der Patient über die unzureichende Besserung der Miktion. Wir schlugen ihm eine Injektion mit Botulinumtoxin A vor. Injiziert in den Detrusor inhibiert es die Freisetzung von Acetylcholin an der muskarinen Endplatte und reduziert die Kontraktion des Detrusors. So kann das Verfahren auch bei einem überaktiven Detrusor eingesetzt werden – der Eingriff muss jedoch alle 6 Monate durchgeführt werden.
Herr S. entschloss sich gegen die Behandlung mit Botox, sodass wir ihm die Alternative der sakralen Neuromodulation zur Wiedererlangung seiner synchronisierten Blasenentleerung vorstellten: Ein Impulsgeber sendet ein Signal über eine Elektrode an die Sakralnerven. Über die Inhibition der afferenten Fasern erfolgt eine gehemmte Rückantwort, um so die übermäßige Aktivität des Detrusors zu reduzieren. Zudem werden C-Fasern gehemmt; das führt zu weniger uninhibierten Detrusorkontraktionen, Hemmung des Guarding-Reflexes und zur Relaxation des Beckenbodens.
Patienten mit Detrusorüberaktivität können ebenso von einer sakralen Neuromodulation profitieren.
Die neurologische Dysfunktion des unteren Harntraktes ist ein heterogenes, komplexes Krankheitsbild, das einer engen urologischen und neurologischen Betreuung bedarf. Die Höhe der Schädigung kann Aufschluss über die Art der Dysfunktion geben, häufig treten Kombinationen auf. Eine engmaschige sonografische Kontrolle der Nieren und eine Restharnkontrolle ist essentiell, um Folgen wie Nierenschädigungen und Harnwegsinfektionen zu vermeiden.
Unser Patient hat bereits die erste Phase der Teststimulation durchlaufen. Vier Wochen später stellt er sich mit seinem Miktionstagebuch vor. Die Blasenentleerung sei nun angenehmer, er könne schnell starten und der Strahl sei nun nicht mehr unterbrochen. Urin würde er nicht mehr verlieren. Sonografisch zeigt sich ein Restharn von 50 ml. Das Kribbeln im Perineum, dass die meisten Patienten die ersten zwei Tage spüren, nehme er längst nicht mehr wahr. Wir bestellen ihn in zwei Wochen wieder ein, um dann den permanenten Schrittmacher unter der Haut zu implantieren.
S1-Leitlinie: Diagnostik und Therapie von neurogenen Blasenstörungen, 2020. Deutsche Gesellschaft für Neurologie.
Janicker. Neurogenic Bladder: Epidemiology, Diagnosis, and Management. Semin Neurol, 2020. doi: 10.1055/s-0040-1713876
Moussa et al. Lower urinary tract dysfunction in common neurological diseases. Turk J Urol, 2020. doi: 10.5152/tud.2020.20092.
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