Zunächst sieht alles nach einem harmlosen Infekt aus. Dann stürzt der junge Mann mehrfach, das Gehen fällt ihm immer schwerer. Die Symptome schreiten rasch voran, sodass er nach wenigen Tagen künstlich beatmet werden muss. Was steckt dahinter?
Ein 32-jähriger Mann wird von der Inneren Medizin in die Neurologie verlegt. Dort war er wegen einer atypischen Lungenentzündung in Behandlung, ohne dass ein Erreger nachgewiesen werden konnte. Fieber, Luftnot und allgemeines Krankheitsgefühl hatten zur Aufnahme geführt. Im Röntgenthorax fanden sich unscharf begrenzte und verteilte Infiltrate. Der Patient wurde eine Woche lang empirisch antibiotisch mit Ampicillin/Sulbactam und zusätzlich Roxithromycin zur Abdeckung atypischer Erreger behandelt und die respiratorischen Symptome besserten sich.
Ein Erregernachweis gelang weder im Sputum noch in den Blutkulturen, die ohne bakterielles Wachstum blieben. Auch die Untersuchung des Urins auf Legionellen war unauffällig. Während sich die Krankheitssymptome besserten, bemerkte der Patient eine neu aufgetretene Gangunsicherheit. Nachdem diese zunächst auf die Folgen der Infektion zurückgeführt wurde, stürzte der Patient mehrfach und das Gehen fiel ihm zunehmend schwerer. Statt der geplanten Entlassung nach Hause wurde der Patient in die neurologische Abteilung eines anderen Krankenhauses verlegt.
Die neurologische Untersuchung zeigt bei der Übernahme eine distal betonte asymmetrische Tetraparese und eine periphere Fazialisparese rechts. Das Gehen ist nur mit Unterstützung für einige Schritte möglich. Zusätzlich besteht eine distale Hypästhesie beider Beine und der Patient berichtet über unangenehme Missempfindungen in beiden Füßen. Die Muskeleigenreflexe sind ausgefallen.
Die Laborwerte sind bis auf ein leicht erhöhtes CRP unauffällig. Wesentliche Vorerkrankungen liegen nicht vor, er nimmt keine Dauermedikation ein. Auch ein Drogenkonsum wird verneint. Der Patient wird lumbalpunktiert, in der Liquoruntersuchung zeigt sich eine leichte Erhöhung der Zellzahl auf 25/μl, das Eiweiß ist mit 240 mg/dl deutlich erhöht.
Unter der Verdachtsdiagnose eines rasch progredienten Guillain-Barré-Syndroms wird der Patient auf die Intensivstation aufgenommen und eine Plasmapheresebehandlung eingeleitet. Aufgrund der erhöhten Zellzahl im Liquor wird zusätzlich eine empirische Therapie mit Aciclovir und Ceftriaxon unter der Differentialdiagnose einer infektiösen Genese eingeleitet. Trotz des raschen Therapiebeginns kommt es in den folgenden Tagen zu einer weiteren Verschlechterung der Paresen.
Der Patient kann die Arme nur noch kurz gegen die Schwerkraft halten, auch das Heben des Kopfes fällt zunehmend schwerer. Auch das Schlucken bereitet Probleme, es sammelt sich immer mehr Speichel an, den der Patient nicht mehr ausreichend schlucken kann. Durch die Schluckstörung ist der Patient aspirationsgefährdet, auch die Atmung wirkt zunehmend angestrengt, weshalb von einer Beteiligung der Atemmuskulatur ausgegangen wird.
Wegen der Aspirationsgefahr und der drohenden respiratorischen Insuffizienz wird der Patient schutzintubiert und beatmet. Nach wiederholten Plasmapheresebehandlungen kommt es zunächst zu einer Stabilisierung und schließlich zu einer langsamen Besserung der Symptome. Nach einigen Tagen ist die Extubation möglich. In der Zwischenzeit werden Neurographien durchgeführt, die die Verdachtsdiagnose eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS) erhärten. Im weiteren Verlauf kommt es zu einer allmählichen weiteren Besserung, der Patient wird in die neurologische Rehabilitation verlegt.
Das Guillain-Barré-Syndrom ist die häufigste Ursache einer subakut (Tage bis Wochen) auftretenden schlaffen Lähmung. Typischerweise geht den Lähmungserscheinungen eine Infektion voraus, entweder eine respiratorische oder eine gastrointestinale Infektion. Ursache ist eine immunvermittelte Schädigung der spinalen Nervenwurzeln und der peripheren Nerven.
Durch den Angriff des körpereigenen Immunsystems auf die Nerven kommt es zu zunehmenden Lähmungserscheinungen. Entsprechend der immunvermittelten Ursache besteht die Behandlung in einer Immuntherapie – entweder durch Plasmapherese oder durch Gabe von intravenösen Immunglobulinen. Beide Therapien haben zum Ziel, die gegen Nervenbestandteile gerichteten Antikörper zu entfernen und so die fortschreitende Schädigung aufzuhalten.
Refresher: Warum attackiert das Immunsystem die Nerven? Ursache ist eine fatale Ähnlichkeit von Bestandteilen der Krankheitserreger mit Strukturen der Myelinscheiden. Die Antikörper, die zunächst die Erreger bekämpfen, binden sich dann an die Myelinscheiden und zerstören sie. Fehlt den Nerven die Ummantelung, ist zunächst die Signalübertragung über diese Nerven gestört. Können die Signale über die Nerven nicht mehr an die Muskeln weitergeleitet werden, kommt es zu den krankheitstypischen schlaffen Lähmungen. Wird die Nervenhülle dann weiter geschädigt, kann es auch zu einer zunehmenden Schädigung der Nerven selbst kommen – mit weiter zunehmenden Lähmungen.
Für die betroffenen Patienten sind die Symptome psychisch sehr belastend, zumal die Beschwerden meist weiter zunehmen und dies oft unter bereits begonnener Therapie. Die mittel- und langfristige Prognose ist dabei relativ gut. Die meisten Patienten erholen sich innerhalb von Wochen bis Monaten nahezu vollständig. Dennoch handelt es sich um eine schwere und komplikationsträchtige Erkrankung.
Probleme können vor allem die Lähmung der Rachenmuskulatur (Bulbärparalyse), eine Schwäche der Atemmuskulatur und eine autonome Beteiligung mit der Gefahr von Herzrhythmusstörungen sein. Alle Patienten mit GBS müssen daher engmaschig überwacht werden, um im Bedarfsfall schnell intensivmedizinische Maßnahmen einleiten zu können. Trotz der im Allgemeinen guten Prognose gibt es immer wieder Patienten, die an der Erkrankung versterben. In Ländern mit hohem Einkommen liegt die Mortalität bei 5 %.
Quelle:
Shahrizaila et al. Guillain-Barré syndrome. Lancet, 2021. doi: 10.1016/S0140-6736(21)00517-1
Bildquelle: Susan Wilkinson, Unsplash