Die Ärzte beschreiben ihren Krebs-Patienten als „detailversessenen Grübler“. Obwohl seine Krankheit stabil ist, holt er sich Hilfe bei einer anthroposophisch-tätigen Ärztin. Doch die Therapie wird ihm fast zum Verhängnis.
Bei onkologischen Patienten erfreuen sich komplementäre und alternative Therapien größter Beliebtheit. In deutschsprachigen Ländern wenden sich durchschnittlich 41 % aller Menschen mit Krebs solchen Optionen zu, wie eine Review und Metaanalyse zeigt. Viele Laien sehen in diesen Angeboten eine harmlose Möglichkeit, die eigene Gesundheit zu verbessern – dabei können die Folgen können lebensbedrohlich.
Ärzte berichten von einem 50-jährigen sportlich aktiven Mann mit einer diffus lebermetastasierten neuroendokrinen Neoplasie des terminalen Ileums. Seine Lebermetastasen haben zu einem Karzinoidsyndrom mit Flush, gelegentlichem Durchfall und Bronchospasmen geführt. Der Patient erhält nach einer operativen Teilresektion des Ileums mit Anastomose das Somatostatin-Analogon Lanreotid aufgrund der inoperablen Lebermetastasen. Seitdem ist seine Tumorerkrankung stabil.
Ärzte beschreiben ihren Patienten als „detailversessenen Grübler“. Er sucht Hilfe bei einer Ärztin der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland. Sie verabreicht ihm 0,2 mg Abnobaviscum acer D20 subkutan und zeigt dem Mann, wie er sich dieses Mistelpräparat selbst spritzen kann.
Nach sechs Wochen entwickelt er eine haselnussgroße Verhärtung unterhalb der Injektionsstelle. Die Empfehlung seiner Ärztin, die Dosis zu halbieren (0,1 mg), führt zu keiner Besserung. Erst bei 2-mal 0,02 mg verringern sich die Beschwerden – und der Mann erhöht ärztlich abgesprochen die Dosis erneut.
30 Minuten nach einer Applikation kommt es schließlich zu Übelkeit, Unwohlsein, Dyspnoe, Schwindel und Stuhldrang. Der Patient stürzt; seine Ehefrau verständigt den Notarzt. Dieser verabreicht Prednisolon, Clemastin, Ondansetron und Theodrenalin-Cafedrin. Kardiopulmonale Ereignisse lassen sich ausschließen. Nach eingehenden Untersuchungen wird der Patient am zweiten Tag seines stationären Aufenthalts ohne Beschwerden wieder entlassen.
Anaphylaxien dieser Art durch Mistelpräparate sind derzeit seltene Ereignisse, wie ein Blick in die Literatur zeigt. Doch als Problem sehen die Autoren, dass durch die S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ Mistelpräparate immer populärer werden.
Die Arzneimittel sind äußerst heterogen. Teils handelt es sich um Extrakte, teils auch um homöopathische Arzneimittel, was Bewertungen erschwert. Differenzialdiagnostisch kann das Karzinoidsyndrom Beschwerden einer beginnenden Anaphylaxie maskieren und dazu führen, dass Ärzte erst spät intervenieren. Mediziner sollten ihre Patienten immer über die Nebenwirkungen von komplementärmedizinischen Misteltherapien aufklären.
Quelle:
Kaemmerer & Hommann: Anaphylactic shock after mistletoe therapy. Inn Med (Heidelb), 2024. doi: 10.1007/s00108-024-01746-8
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