Die Alzheimer-Krankheit soll zukünftig allein anhand von Biomarkern diagnostizierbar sein – unabhängig davon, ob Patienten Symptome zeigen. Doch seitens der Ärzte regt sich jetzt Widerstand.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Frau Meier hat Gedächtnisprobleme; oft fallen ihr die Namen von Bekannten, die sie auf der Straße trifft, nicht auf Anhieb ein. Es ist auch schon vorgekommen, dass sie Dinge verlegt hat oder plötzlich nicht mehr wusste, was sie gerade vorhatte. Gut, sie ist mit ihren 85 Jahren nicht mehr die Jüngste, vielleicht sind das nur normale Alterserscheinungen. Vielleicht steckt aber auch mehr dahinter: Frau Meier macht sich Sorgen, dass es sich um eine beginnende Demenz handeln könnte. Deshalb vereinbart sie einen Termin in einer Gedächtnisambulanz.
Dort werden verschiedene Tests durchgeführt, die das Gedächtnis und andere Hirnleistungen überprüfen. Außerdem wird ihr Blut abgenommen. Als die Ergebnisse besprochen werden, freut sie sich zunächst, denn alle Gedächtnistests sind unauffällig. Doch dann teilt man ihr mit, dass sie trotz fehlender Symptome an Alzheimer erkrankt sei – das habe man im Blut festgestellt. Frau Meier ist über diese Diagnose am Boden zerstört und stellt sich vor, dass sie in absehbarer Zeit nicht mehr wie bisher selbständig leben kann, sondern in ein Pflegeheim umziehen muss.
Bislang erscheint eine Geschichte wie die von Frau Meier unrealistisch. Doch vor Kurzem hat die Alzheimer’s Association neue Diagnosekriterien für Alzheimer veröffentlicht, nach denen die Krankheit rein biologisch definiert werden soll. Im Mittelpunkt steht dabei der Nachweis von Biomarkern, also Ergebnissen medizinischer Tests, die den im Gehirn ablaufenden Krankheitsprozess nachweisen sollen.
Bei der Alzheimer-Krankheit bilden sich im Gehirn der Betroffenen krankhafte Ablagerungen von zwei verschiedenen Proteinarten. Zum einen lagert sich Amyloid in Plaques außerhalb der Neuronen ab. Auch innerhalb der Nervenzellen kommt es zu Eiweißablagerungen, die aus Tau-Protein bestehen. Die krankhaften Proteinablagerungen lassen sich mit bildgebenden Verfahren wie dem Amyloid-PET oder im Nervenwasser nachweisen. In Zukunft soll es noch einfacher werden: Bluttests, die die Alzheimer-Veränderungen nachweisen können, stehen kurz vor der Marktreife.
Die Idee hinter der neuen, rein biologischen Definition der Alzheimer-Krankheit beruht auf der Beobachtung, dass krankhafte Veränderungen im Gehirn bereits Jahre oder Jahrzehnte vor dem Auftreten erster Krankheitssymptome entstehen. Wenn Symptome wie Gedächtnis- oder Sprachstörungen auftreten, könnte es für eine Therapie zu spät sein, weil die Schäden an den Nervenzellen dann nicht mehr repariert werden können. Vielmehr müsste man bereits bei der Entstehung der ersten Veränderungen im Gehirn ansetzen, um das Auftreten von Demenzsymptomen in der Zukunft zu verhindern.
Es gibt Medikamente, die die Symptome der Demenz etwas lindern oder den Krankheitsverlauf leicht verzögern können, wenn sie frühzeitig nach dem Auftreten der ersten Alzheimer-Symptome eingesetzt werden. Von einer Heilung oder einem Aufhalten des fortschreitenden Krankheitsverlaufs ist man jedoch noch weit entfernt. Es erscheint durchaus plausibel, dass die Therapie noch früher ansetzen muss – also gerade in dem Stadium, in dem noch keine Symptome auftreten. Aber leiden Menschen mit entsprechenden Veränderungen im Gehirn deshalb an Alzheimer oder sollten sie so diagnostiziert werden?
Gegen diese rein biologische Definition der Alzheimer-Krankheit wendet sich nun eine Gruppe von Alzheimer-Forschern. Die International Working Group, quasi eine Konkurrenzgruppe zur Alzheimer’s Association, hat jetzt in JAMA Neurology ihre Gegenargumentation veröffentlicht. Als problematisch sehen sie vor allem, dass Menschen, bei denen Alzheimer-Biomarker nachgewiesen werden, nicht in jedem Fall im Laufe ihres Lebens dementielle Symptome entwickeln.
Schließlich kann es sehr lange dauern, bis sich aus den Amyloid- und Tau-Ablagerungen im Gehirn Schäden entwickeln, die das Gedächtnis merklich beeinträchtigen. Viele Menschen sterben an anderen Ursachen, bevor sich eine Demenz bemerkbar macht. Zudem ist nicht geklärt, ob wirklich jeden Menschen mit den entsprechenden Ablagerungen über kurz oder lang das Schicksal einer Demenz ereilt. Möglicherweise gibt es andere Faktoren, die manche Menschen widerstandsfähiger gegen die Ablagerungen machen und sie vor dem Ausbruch einer Demenz schützen.
Vielmehr sollten sie über ihr erhöhtes Risiko für das Auftreten von Demenzsymptomen aufgeklärt werden. So besteht die Möglichkeit, das Risiko durch Beeinflussung von Risikofaktoren oder in Zukunft durch Medikamente zu senken. Sie wollen die Alzheimer-Krankheit nicht wie die Alzheimer’s Association rein biologisch definieren, sondern weiterhin klinisch-biologisch. Das bedeutet, dass die Diagnose weiterhin voraussetzt, dass die Betroffenen tatsächlich Symptome einer Demenz zeigen und zusätzlich die Alzheimer-Pathologie nachgewiesen wird. Damit könnten unnötige Ängste, wie sie bei Frau Meier entstanden sind, vermieden werden und es wäre dennoch möglich, Personen mit erhöhtem Risiko zu identifizieren und entsprechend zu behandeln. Am Ende bleibt die Frage: Sollte die Alzheimer-Krankheit schon vor Symptombeginn diagnostiziert werden?
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
Biomarker-Diagnose: Neue Diagnosekriterien der Alzheimer’s Association ermöglichen eine frühe Alzheimer-Diagnose allein anhand biologischer Marker im Blut, noch bevor Symptome auftreten. Damit ließe sich schon früh therapieren.
Kontroverse und Widerstand: Die International Working Group widerspricht dieser rein biologischen Diagnose, da nicht alle Menschen mit Alzheimer-Biomarkern Symptome entwickeln und somit nicht zwangsläufig erkranken.
Risikoinformation statt Diagnose: Die Forschergruppe plädiert für eine klinisch-biologische Definition, die Diagnose erst bei tatsächlichem Symptomauftritt zu stellen und Betroffene nur über ein erhöhtes Risiko aufzuklären, um unnötige Ängste zu vermeiden.
Quellen:
Jack et al. Revised criteria for diagnosis and staging of Alzheimer’s disease: Alzheimer’s Association Workgroup. Alzheimers Dement, 2024. doi: 10.1002/alz.13859.
Dubois et al. Alzheimer Disease as a Clinical-Biological Construct-An International Working Group Recommendation. JAMA Neurol, 2024. doi: 10.1001/jamaneurol.2024.3770.
Bildquelle: Ahmed, unsplash