Im Juli hatte sich die EMA noch gegen die Zulassung des neuen Amyloid-Antikörpers Lecanemab zur Alzheimer-Therapie entschieden – gestern erfolgte die Kehrtwende. Damit könnte das Medikament bald auch Patienten in Deutschland zur Verfügung stehen.
Ein Medikament zu finden, das die Alzheimer-Krankheit aufhalten kann – darauf ruhen die Hoffnungen von Millionen Betroffenen. Bisher sind nur Medikamente auf dem Markt, die die Symptome der Krankheit lindern (Cholinesterasehemmer und Memantin). Medikamente, die den Krankheitsverlauf verlangsamen, gab es bis vor Kurzem nicht.
Entsprechend viel Aufsehen erregten die positiven Studien mit dem Amyloid-Antikörper Lecanemab. In der Phase-III-Studie mit Lecanemab konnte das Fortschreiten der Erkrankung signifikant verzögert werden, wenn der Antikörper im Frühstadium eingesetzt wurde. Bei den mit Lecanemab behandelten Patienten nahm die kognitive Leistungsfähigkeit über einen Beobachtungszeitraum von 18 Monaten um rund ein Drittel weniger ab als in der Placebo-Gruppe. Nach den positiven Studienergebnissen haben die Hersteller Biogen und Eisai die Zulassung unter anderem in den USA und Europa beantragt.
Die jeweiligen Zulassungsbehörden kamen zunächst zu unterschiedlichen Entscheidungen. Während sich die amerikanische Zulassungsbehörde FDA für die Zulassung von Lecanemab aussprach, bewertete die europäische EMA die Studiendaten anders. Zwar stellte auch die EMA die positiven Effekte von Lecanemab nicht in Abrede. Aber sie bewertete die Risiken höher. Das Aufhalten der Krankheitssymptome durch das Medikament ist nicht ohne Risiken. Viele Patienten entwickeln Schwellungen oder Blutungen im Gehirn. Diese Veränderungen stehen in engem Zusammenhang mit dem Wirkmechanismus von Lecanemab.
Lecanemab ist ein Antikörper, der gegen Amyloid gerichtet ist. Bei Alzheimer-Patienten ist das Gehirn voller Amyloid-Plaques, die durch Lecanemab fast vollständig beseitigt werden, der Antikörper wirkt also wie eine Art Amyloid-Müllabfuhr. Durch die Amyloid-Entfernung kann es jedoch zu entzündlichen Prozessen und Schädigungen der Gefäßwände kommen, was zu den Nebenwirkungen führt. Meist sind die Veränderungen nur im MRT sichtbar und verursachen keine Beschwerden, aber manchmal führen die Schwellungen zu Symptomen – und die können verheerend sein. In den Studien gab es einzelne Todesfälle, die vermutlich auf diese Nebenwirkungen zurückzuführen sind. In ihrer Nutzen-Risiko-Abwägung kam die EMA deshalb noch im Juli zu dem Schluss, Lecanemab nicht zuzulassen (DocCheck berichtete).
Nach einem negativen Bescheid der EMA kann der betroffene Arzneimittelhersteller eine Neubewertung beantragen. Biogen/Eisai hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und neue Daten mit Subgruppenanalysen vorgelegt. Die neuen Daten zeigten, dass es bestimmte Patienten gibt, die zwar genauso gut von Lecanemab profitieren wie das gesamte Studienkollektiv, aber ein geringeres Risiko für Nebenwirkungen haben.
Entscheidend für das Risiko ist eine bestimmte Mutation im Gen für das Apolipoprotein E, namens ApoE4. Menschen mit dieser Mutation haben ein erhöhtes Risiko, im Laufe ihres Lebens an der Alzheimer-Krankheit zu erkranken, vor allem, wenn sie zwei Kopien dieser Mutation haben. Bei zwei ApoE4-Kopien war auch das Risiko für die gefürchteten Nebenwirkungen der Amyloid-Antikörper-Therapie deutlich erhöht. Die Zulassung von Lecanemab erfolgte daher mit Einschränkungen. Die Behandlung ist nur für Patienten ohne oder mit nur einer Kopie der ApoE4-Mutation zugelassen. Patienten mit zwei ApoE4-Kopien sollen die Therapie nicht erhalten, da bei ihnen die Risiken den Nutzen überwiegen – so die Einschätzung der EMA.
Formal ist die Zulassung noch nicht endgültig – die EU-Kommission muss noch zustimmen. Diese folgt aber in der Regel den Empfehlungen der EMA. Mit einer baldigen Verfügbarkeit von Lecanemab in Deutschland ist daher zu rechnen. Die hohen Therapiekosten (in den USA kostet Lecanemab 27.000 Dollar/Jahr) und die Notwendigkeit regelmäßiger MRT-Kontrollen zur Früherkennung möglicher Nebenwirkungen könnten das Gesundheitssystem allerdings vor neue Herausforderungen stellen.
Bildquelle: Jim Wilson, Unsplash