Die Krise in den USA zeigt: Beim Verschreiben von Opioiden sollten Ärzte besonders zurückhaltend sein. Andererseits sind sie ein einfaches Mittel, um Schmerzpatienten schnell Linderung zu verschaffen. Dabei gäbe es Alternativen – die bezahlt nur niemand.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Nach einer Operation werden zum Management der Schmerzen häufig Opioide eingesetzt. Bei manchen Patienten halten die Schmerzen nach der OP jedoch über längere Zeit an. Das kann zu einer Langzeiteinnahme von Opioiden führen, die in einen Opioidmissbrauch oder eine -abhängigkeit übergehen kann. In den USA ist häufig ist von einer Opioidkrise die Rede. Aber wie sieht die Situation in Deutschland und Europa aus? Mit dem Thema „Langzeit-Opioide nach Operationen: Haben wir ein Problem?“ hat sich eine Sitzung auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) beschäftigt.
Über eine aktuelle, groß angelegte Studie zu chronischen Schmerzen und einer Langzeiteinnahme von Opioiden in Europa berichtete Prof. Ulrike Stamer. Sie ist Oberärztin und Leiterin der Arbeitsgruppe „Clinical and Molecular Pain Research“ an der Klinik für Anästhesiologie und Schmerzmedizin am Inselspital der Universität Bern (Schweiz) und Letztautorin der Studie. „In Europa gab es zur Langzeitanwendung von Opioiden nach Operationen bisher nur wenig Daten. Das wollten wir ändern“, berichtet Stamer.
In die Studie wurden die Daten von 2.326 Patienten aus 11 europäischen Krankenhäusern aus dem PAIN-OUT-Register einbezogen. Die Patienten hatten zwischen 2012 und 2022 jeweils am ersten Tag sowie 6 und 12 Monate nach der Operation Fragebögen zu verschiedenen Aspekten des Schmerzes ausgefüllt. Zudem wurde die Schmerzmedikation erfasst. Die Forscher interessierte, wie viele Patienten 6 und 12 Monate nach der Operation Opioide einnehmen und welche Faktoren mit einer Langzeiteinnahme von Opioiden und der Entwicklung chronischer Schmerzen zusammenhängen.
Chronische Schmerzen 12 Monate nach der OP wurden je nach ihren Gründen in drei Kategorien unterteilt:
Die Patienten hatten allgemeinchirurgische, orthopädische, gynäkologische oder neurochirurgische Operationen erhalten. 5,5 % hatten bereits vor der Operation eine Opioid-Medikation – deutlich weniger als in den USA, wo die Rate bei mindestens 20 % liegt. Vor der Operation berichteten 41 % der Patienten über chronische Schmerzen im oder außerhalb des geplanten Operationsgebiets, 6 Monate nach der OP 38 % und 12 Monate danach 35 %. Am häufigsten berichteten Patienten vor einer Gelenkeersatz-, Wirbelsäulen- oder einer neurochirurgischen Operation, etwa wegen eines Bandscheibenvorfalls über vorbestehende chronische Schmerzen. Zugleich nahmen sie vor der Operation auch die höchsten Opioiddosen.
6 Monate nach der Operation nahmen 4,4 % der Patienten Opioide, 12 Monate danach 3,5 %. Am höchsten war der Anteil der Patienten, die 12 Monate nach dem Eingriff Opioide nahmen, in der Gruppe „ohne Bezug“. 1,1 % der Patienten nahmen nach der Operation neu Opioide. Die Variable, die am stärksten mit der Opioideinnahme 12 Monate nach der OP zusammenhing, war eine Opioidmedikation bereits vor der Operation.
„Die Ergebnisse zeigen, dass eine langfristige Opioideinnahme nach Operationen in den untersuchten Ländern in Europa im Vergleich zu Nordamerika relativ gering ist“, fasst Ulrike Stamer zusammen. „Weiterhin machen sie deutlich, dass vor allem chronische Schmerzen und eine Opioidmedikation bereits vor der Operation mit einer Langzeiteinnahme von Opioiden nach Operationen assoziiert sind. Solche Risikopatienten lassen sich vor einer Operation gut identifizieren.“ Eine weitere Risikogruppe seien Patienten mit Operationen an Wirbelsäule oder Spinalkanal oder einer Gelenkeersatz-Operation. „Diese Patienten haben häufig schon vor der Operation starke Schmerzen und nehmen zum Teil bereits Opioide ein“, erläutert Stamer.
Eine weitere Studie zum Thema stellte Johannes Dreiling vor. Er ist Studienarzt bei den Projekten QUIPS (Qualitätsverbesserung in der postoperativen Schmerztherapie) und PAIN OUT in der Sektion Schmerztherapie der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie am Universitätsklinikum der Friedrich Schiller Universität Jena. In der Studie wurden bundesweite Abrechnungsdaten der Barmer-Krankenkasse verwendet, um erstmals mithilfe eines großen Datensatzes zu erfassen, wie hoch das Risiko für eine anhaltende Opioideinnahme nach Operationen in Deutschland ist und welche Faktoren das Risiko erhöhen. Es wurden erwachsene Patienten mit stationären Operationen im Jahr 2018 einbezogen, die bisher keine Opioide einnahmen und nicht krebskrank waren. Ein persistierender postoperativer Opioidgebrauch (PPOG) war definiert durch Opioid-Verordnungen in den Zeiträumen 1 bis 90 Tage und 91 bis 180 Tage nach der Operation.
203.327 Patienten konnten in die Studie einbezogen werden, der Frauenanteil lag bei 63,4 %. „Die Auswertung zeigte, dass das Risiko für eine persistierenden postoperativen Opioidgebrauch relativ gering war: Es lag bei 1,4 %“, berichtet Dreiling. „Die Art der Operation hatte dabei einen größeren Einfluss auf das PPOG-Risiko als patientenbezogene Faktoren.“ So bestand das höchste Risiko für eine anhaltende Opioideinnahme nach der Operation bei großen Amputationen und orthopädischen Operationen, gefolgt von unfall- und gefäßchirurgischen Eingriffen. Auf Patientenseite waren vor allem Alkoholmissbrauch und die Einnahme von Antidepressiva mit einem erhöhten PPOG-Risiko assoziiert, gefolgt von der Einnahme von Nichtopioid-Schmerzmitteln und einer schmerzbezogenen Diagnose.
„Die Ergebnisse legen nahe, dass vor allem bei Amputationen, Wirbelsäulen- und orthopädischen Operationen das Augenmerk darauf liegen sollte, einem langfristigen Opioidgebrauch nach der Operation vorzubeugen“, sagt Dreiling. „Das gleiche gilt bei den in unserer Studie gefundenen Risikofaktoren auf Patientenseite.“ Diese Patienten sollten nach der Operation hinsichtlich Schmerzen und postoperativer Schmerztherapie engmaschig überwacht und nach der Entlassung gegebenenfalls durch Schmerztherapeuten weiter betreut werden.
„Um einer Langzeitmedikation von Opioiden nach Operationen vorzubeugen, sollte in Zukunft genauer erfasst werden, ob chronische Schmerzen in Zusammenhang mit der Operation stehen oder nicht“, sagt Stamer. „Außerdem sollten vor der Operation der Opioidgebrauch und Risikofaktoren für eine langfristige Opioideinnahme sowie psychische Faktoren erfasst werden.“ In Nordamerika, wo Opioide über lange Zeit unkritisch verordnet wurden, wird die Opioideinnahme nach Operationen als Auslöser für eine Langzeiteinnahme diskutiert. „Im Gegensatz dazu wird in Deutschland viel Wert auf eine ausreichende Basismedikation mit Nichtopioid-Schmerzmitteln gelegt. Erst wenn diese nicht ausreichend ist, werden Opioide in niedriger Dosierung eingesetzt“, so die Schmerzexpertin.
Wichtig sei auch eine gute Patientenedukation. „Die Patienten sollten wissen, dass Opioide nur eine Kurzzeitmedikation nach einer Operation sind und Nebenwirkungen haben, wie Sedierung und eine mögliche Abhängigkeit“, betont die Schmerzexpertin. „Falls nach der Entlassung noch Opioide notwendig sein sollten, sollte ein Behandlungsplan zur Dosisreduktion besprochen und in schriftlicher Form mitgegeben werden. Diese Information sollte auch der Hausarzt erhalten.“ Bei Patienten, die bereits vor der OP Opioide einnehmen, sei es sinnvoll, diese wann immer möglich bereits vor der Operation zu reduzieren. Allerdings fehlten für all diese Maßnahmen oft die personellen Ressourcen.
Über Ansätze, wie man eine langfristige Opioideinnahme nach Operationen verhindern könnte, berichtete Dr. Regine Klinger in einem weiteren Vortrag. Sie ist Leitende Psychologin am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Bereich Schmerzmedizin und Schmerzpsychologie und dort auch Leiterin der Studiengruppe „Schmerzforschung“. „Beim Management von Schmerzen herrscht in der Medizin oft die Ansicht vor: ‚Nur Medikamente helfen‘“, sagt Klinger. „Dabei wird übersehen, dass es weitere Faktoren gibt, die die Medikamente ergänzen und zum Teil sogar ersetzen können.“ Grundlage sei hier das biopsychosoziale Schmerzmodell. „Denn beim Schmerzerleben spielen neben biologischen auch psychologische und soziale Faktoren eine wichtige Rolle“, betont die Psychologin.
So fanden Klinger und ihre Kollegin Julia Stuhlreyer in einer Studie mit 122 Patienten mit einer Knieersatz-Operation heraus, dass negative emotionale Zustände negative Erwartungen bezüglich der Operation vorhersagen. Diese gehen wiederum mit mehr Schmerzen nach der Operation einher. „Das zeigt, dass es wichtig ist, negative Erwartungshaltungen vor der Operation zu reduzieren, um Schmerzen nach der OP zu mindern“, erläutert Klinger.
In einer weiteren Studie untersuchte das Team um Klinger gemeinsam mit Forschern vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, welchen Einfluss ein erweitertes Schmerzmanagement-Programm auf Schmerzen und den Schmerzmittelgebrauch nach Operationen hat. Dazu wurden 96 Patienten mit einer Knieersatz-Operation in vier Gruppen unterteilt. Eine Gruppe erhielt über eine App Informationen zur Wirkung der Schmerzmedikamente und eine visualisierte Prognose zum Schmerzverlauf in den nächsten Stunden. Die zweite Gruppe erhielt die gleichen Informationen von einem Arzt, der in einem fünfminütigen Gespräch pro Tag auf ihre Fragen und Bedürfnisse einging. Die dritte Gruppe erhielt beide Interventionen. Alle drei Gruppen konnten zudem selbst über die Zeitpunkte ihrer Schmerzmedikation entscheiden. Die vierte Gruppe erhielt die in der Klinik übliche Behandlung (Kontrollgruppe). Patienten, die die App nutzten oder die Intervention durch einen Arzt erhielten, berichteten nach der Operation über weniger Schmerzen und nahmen signifikant weniger Opioide ein als die Kontrollgruppe. Am stärksten ausgeprägt waren die Effekte in der Gruppe, die die App nutzte und zugleich durch einen Arzt betreut wurde.
„Wie Schmerzen erlebt werden, hängt stark mit der Verarbeitung nozizeptiver Reize auf neuronaler Ebene zusammen“, erläutert Klinger. „Günstige Kontextfaktoren können dazu beitragen, dass das endogene Opioid- und Dopaminsystem im Gehirn aktiviert wird und Endorphine und Dopamine ausgeschüttet werden, was sich modulierend auf das Schmerzerleben auswirkt. Man spricht auch vom Placebo-System. Umgekehrt können ungünstige Kontextfaktoren das Nocebo-System aktivieren und Schmerz verstärken.“
Kontextfaktoren, die Schmerzen beeinflussen können, sind laut Klinger:
All diese Aspekte könnten beim Management von Schmerzen nach einer Operation berücksichtigt werden – und könnten damit auch einer Langzeiteinnahme von Opioiden vorbeugen. „Ein ganz wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht: Ärzte und medizinisches Personal sollten mit den Patienten sprechen und sich für sie Zeit nehmen“, betont Klinger. „Das kann ihnen Sicherheit und Beruhigung vermitteln.“
Wichtige Maßnahmen sind laut Klinger:
„All dies kann das Placebo-System aktivieren und so Schmerzen deutlich reduzieren“, sagt Klinger. Leider würden solche Maßnahmen im klinischen Alltag bisher kaum umgesetzt – oft mit der Begründung, es fehle die Zeit. „Dabei sind viele dieser Maßnahmen einfach und ohne großen Zeitaufwand umsetzbar und gleichzeitig sehr effektiv“, betont die Expertin. „Es wäre daher aus meiner Sicht sinnvoll, sie an möglichst vielen Kliniken zu etablieren.“
Zusammenfassung für Eilige:
Langzeit-Opioidgebrauch: Opioide werden oft nach Operationen zur Schmerzbehandlung eingesetzt; eine Langzeiteinnahme kann jedoch zu Abhängigkeit führen, was vor allem in Nordamerika ein großes Problem darstellt.
Studien in Europa: Eine Studie mit über 2.300 Patienten aus Europa zeigt, dass die Langzeitanwendung von Opioiden nach Operationen hierzulande seltener ist und am stärksten mit bereits vorbestehenden chronischen Schmerzen und Opioidkonsum vor der OP assoziiert ist.
Schmerzmanagement-Strategien: Psychosoziale und edukative Maßnahmen, wie die Reduktion negativer Erwartungen, Patientenedukation und die Aktivierung des Placebo-Systems, könnten die Langzeiteinnahme von Opioiden verringern, werden jedoch im Klinikalltag oft vernachlässigt.
Quellen:
Stuhlreyer et al. A digital application and augmented physician rounds reduce postoperative pain and opioid consumption after primary total knee replacement (TKR): a randomized clinical trial. BMC Med, 2022. doi: 10.1186/s12916-022-02638-0
Stuhlreyer & Klinger: The Influence of Preoperative Mood and Treatment Expectations on Early Postsurgical Acute Pain After a Total Knee Replacement. Front. Psychiatry, 2022. doi: 10.3389/fpsyt.2022.840270
Dreiling et al. Inzidenz und Risikofaktoren für einen persistierenden Opioidgebrauch nach Operationen. Eine retrospektive Sekundärdatenanalyse. Dtsch Arztebl Int, 2024. doi: 10.3238/arztebl.m2024.0200
Hofer et al. Trajectories of pain and opioid use up to one year after surgery: analysis of a European registry. British Journal of Anaesthesia, 2024. 10.1016/j.bja.2023.12.002
Bildquelle: Towfiqu barbhuiya, Unsplash