Nachdem in Hamburg ein Obdachloser vor einer Klinik in der Kälte allein gelassen wurde, macht sich die große Empörung breit. Dabei wird vergessen, dass die Notaufnahme nicht aus Boshaftigkeit, sondern purer Verzweiflung gehandelt hat.
Ein Obdachloser wurde nachts in der Kälte vor die ZNA geschoben. Die Meldung ging auf Bluesky viral: Große Empörung, weil der Fall ja so klar zu sein scheint. Wie kann man nur so böse und verwahrlost sein usw. Hass gegen die Mitarbeiter der Notaufnahme. Moralisch eindeutiger Fall, nur raus mit der Wut auf diese Unmenschen.
Kollegen, die in einer Notaufnahme arbeiten und dazu nicht nur eine Meinung haben, schildern, was hinter den Türen abgeht. Sie stellen Fragen und wollen helfen, Außenstehenden verständlich zu machen, warum es zu diesem Fall kommen konnte.
Aber anstatt die Chance zu nutzen, mit Menschen zu diskutieren, die dort arbeiten und mal nachzufragen, wieso es zu so einer Situation kommen kann, wird verbal auf sie eingedroschen: „Schäm dich“ oder „Hass ist eine adäquate Antwort auf Typen wie dich“.
Und ich frage mich – Leute, ernsthaft? Glaubt ihr, das hilft irgendjemandem?
Völlig unabhängig von diesem Kasus in Hamburg – es gibt immer zwei Seiten einer Medaille und einen Rand, den wir beide nicht sehen!
Es lohnt sich zu zuhören. Es ist NICHT immer alles so glasklar, wie es sich auf den ersten Klick darstellt.
Zu verstehen, wie es zu der Situation kommen konnte, bedeutet nicht, Verständnis dafür zu haben, wieso man so gehandelt hat.
Ein Beispiel:
Da arbeiten Leute, die sind in der neunten Nacht im Dienst. Mit Wochenende. Auch in dieser Schicht sollten sie zu acht sein – sie sind zu fünft. Krankenstand. Der Rettungsdienst „kippt alles ab“ (Zitat einer Mitarbeiterin), was sonst nirgendwo hin kann. Soziale Härtefälle, Schürfwunden, Fieber, Durchfall. Fast 2/3 Fehlzuweisungen. Menschen, die ambulant hätten behandelt werden können – aber die Notaufnahme ist ja immer da, die haben immer auf.
Da muss ein Schlaganfall versorgt werden, daneben eine MRSA-Iso-Patientin mit Durchfall aus dem Pflegeheim, eingekotet. Ein Patient mit OSG-Fraktur und noch vier andere, draußen warten noch zehn. Und dazwischen ein Patient, der auf der Liege liegt und seinen Rausch ausschläft. Die Kopfplatzwunde wurde versorgt, kein Fall für das Krankenhaus. Er hat sich eingenässt, er riecht nach frischem und altem Urin. Er ist nicht wach zu bekommen, verlässt die Liege nicht. Und um alles – wirklich um ALLES – müssen sich die paar Pflegekräfte kümmern.
Erst nachdem in unserer Klinik nach mehreren Vorfällen mit alkoholisierten Menschen etwa 1/3 des Personals gekündigt hatte und das auch als Hauptgrund angab, wurde ein Sicherheitsdienst engagiert. Eine angelernte Hilfskraft mit Pfefferspray und neongelber Weste. Eine Notlösung in jeder Hinsicht. Besser als nichts, aber auch kein Zustand. Denn wir merken: Die Stimmung hat sich geändert. Menschlichkeit ist ein rares Gut geworden. Es herrscht ein Gefühl, ausgenutzt zu werden, von der Gesellschaft missbraucht zu werden. Niemand will diese Menschen haben und wenn sie erstmal bei uns sind, fühlt sich niemand zuständig. Wir werden mit diesen Menschen und ihren Problemen allein gelassen.
Wir haben sogar mal um einen Ruheraum gebeten, in dem diese Menschen bleiben können. Wurde abgelehnt, weil man das nicht bezahlt bekommt. Der Raum war sogar da. Ausgefliest mit Kacheln, damit er morgens gereinigt werden kann, weil Menschen darin oft im Schlaf unter sich lassen. Von der Geschäftsführung wurde argumentiert, der Raum würde als Lagerraum benötigt. Außerdem wolle man keine falschen Anreize setzen.
In dem Artikel wird auch eine Sprecherin zitiert, die anmahnt, dass sich keine öffentliche Stelle zuständig fühle, wenn die Klinik Obdachlose aus medizinischen Gründen nicht behalten kann. Die Sprecherin wünsche sich mehr Hilfe von offizieller Seite. Aber außer wohlwollenden Worten wird auch da nichts kommen.
Es ist erstaunlich, wie wenig Menschen über die Notfallversorgung in Deutschland wissen. Es ist sehr einfach, in eine Notaufnahme zu kommen. Entweder privat zu Fuß, über die 112 oder über eine Einweisung vom Arzt mit einem Krankentransport. Wege rein gibt es viele, die Wege raus sind dagegen viel schlechter geregelt. Weil Notaufnahmen eben für Krankheiten gedacht sind, bei denen eine stationäre Aufnahme notwendig ist. Das meint: Du bist so krank, dass du nicht geplant (Leistenhernie, Knie-Prothese etc.) sondern notfallmäßig aufgenommen werden musst. Weil man so einen entzündeten Blinddarm oder eine Fraktur des Oberschenkels nicht plant. Dafür gibt es die Notaufnahme.
Diese Patienten werden untersucht, behandelt und dann stationär aufgenommen. Dafür sind Notaufnahmen da. Was aber mit Patienten passiert, die mit dem Rettungsdienst mit Bagatellverletzungen oder teilweise auch gänzlich ohne Verletzung in die Notaufnahme gebracht werden, ist kaum geregelt. Es fängt damit an, dass jede von diesen Fehlbehandlungen ein Minusgeschäft ist. Jeder Patient, der dort behandelt und nicht stationär aufgenommen wird, kostet mehr, als er uns Erlös bringt.
Das soll so sein, weil keine Anreize für diese Fehlbehandlungen geschaffen werden sollen. Diese Leute sind aber da und ohne körperliche Untersuchung kann man gar nicht sagen: „das ist nichts für uns“. Wir müssen also Untersuchungen machen, die wir nicht bezahlt kriegen, um sagen zu können: „Damit musst du bitte morgen früh zum Hausarzt.“
Notaufnahmen werden in diesem Sinne regelhaft missbraucht, weil die Leute einfach nicht wissen, wo sie sonst hin gehen sollen. Es gibt keine soziale Notfallnummer oder einen sozialen Notdienst. Der hausärztliche Notdienst kommt für so Bagatellen auch nicht raus und die Notaufnahme ist ja immer da, hat immer auf und ist meist in der Nähe gelegen gut erreichbar.
Deshalb werden wir gerade nachts und am Wochenende oft von hilfesuchenden Menschen aufgesucht, die sonst keine Anlaufstelle haben. Hunger, Armut, Obdachlosigkeit – alles Gründe, warum Menschen zu uns kommen. Auch alle Probleme, die sozial und politisch nicht gelöst werden, landen am Ende dort: Einsamkeit, Drogenmissbrauch, Alkoholismus, Armut – alles schmilzt hier zusammen. Immer schneller und immer extremer.
Auf der anderen Seite seht eine Verwaltung, die Vorgaben der Politik umsetzen muss, aber um 16:00 Uhr nach Hause geht. Ich habe noch nie (!) jemanden aus Verwaltung oder Politik mal an einem Samstag um 22:00 Uhr in der Notaufnahme gesehen.
Wenn wir sagen „wir brauchen neue Liegen“ heißt es: „kein Geld.“ Wir spüren einen enormen Kostendruck. Ein kaputtes EKG, welches regelhaft erst im dritten Anlauf arbeiten wollte, wurde erst nicht repariert. Dann bekamen wir ein Ersatzgerät von 1950. Klobig, ohne automatische Saugnäpfe – ein EKG dauert damit drei Mal so lange. Wir werden behandelt wie Bittsteller.
Und irgendwann geht es einfach nicht mehr. Wen sollen wir denn um Hilfe rufen, wenn wir nicht mehr können? Wenn wir überarbeitet, überlastet sind? Selbst eine „Abmeldung“ von der Notfallversorgung entbindet uns nicht von einer Versorgungspflicht. Wer zu Fuß reinkommt, muss behandelt werden. Auch wenn keine Liege mehr frei ist.
Also wird improvisiert. Es wird immer improvisiert. Weil es ständig an irgendwas fehlt. Personal, Material, Räume (!), Platz. Und alles wird nur notdürftig repariert. Wir sind die letzte Rettung, aber wir werden behandelt wie der letzte Dreck.
Auch wenn es nicht bei allen ankommt, sage ich es nochmal deutlich: Ich heiße das Verhalten im Hamburger Fall nicht gut. So eine menschenunwürdige Behandlung darf nicht vorkommen. Es muss ein Weckruf für uns alle sein.
Es ist aber nicht zielführend, den Dienstplan raus zu kramen und zu gucken, wer das gemacht hat. Wir alle haben das gemacht. „Name-blame-shame“ (dt.: „benenne-beschuldige-beschäme“) ist ein beliebtes Krisenmanagement der Führungsebene. Da kann man sagen: „Der war es! Hinaus mit ihm!“
Dabei hat Mama mir schon beigebracht: Wenn du mit einem Finger auf andere zeigst, zeigen drei auf dich selbst. Und so ist es auch hier. Wer von euch nicht mindestens mal ein paar Schichten in einer Notaufnahme hospitiert hat, sollte sich dazu gar nicht äußern dürfen.
Nutzt die Energie eurer Wut und schreibt den Entscheidungsträgern, die etwas an dieser Misere ändern könnten. Mehr Geld für Soziales, mehr Anlaufstellen und Hilfsprojekte für Obdachlose, eine soziale Notrufnummer 113 als Ergänzung zur 110 und 112. Irgendwas, um den Druck von Notaufnahmen zu nehmen. Dann wären solche Szenen zumindest deutlich unwahrscheinlicher.
Nochmal: Verstehen heißt nicht Verständnis. Und gerade in diesen Situationen würde ich mir wünschen, dass mehr Menschen sich die Mühe machen würden, zu verstehen, warum es zu so einer Situation gekommen ist. Hört zu, stellt Fragen, aber lasst diese Pauschalverurteilungen, wenn ihr keine Ahnung habt.
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