Die französische Behörde ANSM hat eine Marktzulassung für Baclofen als Medikament zur Behandlung von Alkoholabhängigkeit erteilt. Andere Länder wie etwa Deutschland sehen das überaus kritisch, denn die Wirksamkeit ist strittig und das Nebenwirkungsrisiko hoch.
Die Entscheidung der Nationalen Agentur für die Sicherheit von Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten (ANSM) in Frankreich ist unter anderem umstritten, weil man die Alkoholsucht mit einer Pille behandelt: Also eine Droge durch eine andere ersetzt. Vielleicht stehen aus diesem Grund nur wenige Medikamente für die Behandlung der Alkoholsucht zur Verfügung, obwohl ein großer Bedarf besteht. Die S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen” beschreibt deutliche Lücken im Umgang mit der Alkoholabhängigkeit: „Es bestehen erhebliche Unsicherheiten im Umgang mit Suchtpatienten. Hinzu kommen Wissenslücken bezüglich der Chancen einer modernen Suchttherapie. Eine Grundlage hierfür ist ein eklatantes Defizit in Lehre und Ausbildung zum Beispiel von Medizinern und Psychologen. Therapeutischer Nihilismus ist weit verbreitet und wird mit jedem rückfälligen Patienten scheinbar bestätigt. Vielfach wird bezweifelt, dass Alkoholabhängigkeit überhaupt eine Krankheit ist und zu Lasten von Krankenkassen behandelt werden sollte. Die privaten Krankenkassen schließen Leistungen für Suchtkranke weiterhin aus.“
Der Wirkstoff Baclofen ist seit etwa 50 Jahren in Gebrauch. Es handelt sich um einen GABA-Rezeptor Agonisten, der als Muskelrelaxans zur Behandlung von Spastizität der Skelettmuskulatur bei Multipler Sklerose, Rückenmarkserkrankungen/-verletzungen oder zerebralen Ursachen verwendet wird. Der französische Kardiologe Olivier Ameisen konnte sich das Medikament als Arzt selbst verschreiben und erlangte dadurch, wie er selbst schreibt, eine bessere Kontrolle über seinen Alkoholkonsum. Seit er vor zehn Jahren seine eigene Fallstudie in dem Buch „Das Ende meiner Sucht“ veröffentlichte, verschaffen sich vor allem in Europa und Australien viele Betroffene das „Wundermittel“ über Umwege. Ameisen starb im Alter von 60 Jahren. 2014 wurde die Verwendung von Baclofen bei Alkoholismus in Frankreich vorläufig zugelassen. Während sich die deutsche Leitlinie nach wie vor klar gegen den Einsatz ausspricht, hat die französische Behörde für Baclofen nun eine erweiterte Marktzulassung auch für die Behandlung von Alkoholsucht erteilt, obwohl sie noch im April 2018 zu folgendem Schluss gekommen ist: „Die Wirksamkeit von Baclofen zur Verringerung des Alkoholkonsums bei erwachsenen Patienten mit Alkoholabhängigkeit und Risiko für einen hohen Alkoholkonsum […] wurde als klinisch nicht ausreichend beurteilt. Dies führt neben einem potenziell erhöhten Risiko für schwerwiegende Nebenwirkungen (einschließlich Todesfälle) insbesondere bei hohen Dosen zu der Annahme, dass das Nutzen-Risiko-Verhältnis negativ ist.“ Tatsächlich ist die klinische Evidenz für den Nutzen von Baclofen widersprüchlich. Während Fallreports naturgemäß positive Resultate schildern, da hier der Publikationsbias voll zum Tragen kommt, fallen die Effekte in kontrollierten klinischen Studien unterschiedlich aus. Für die Substanz spricht jedoch, dass sie auch bei Personen mit Leberzirrhose angewendet werden kann.
Baclofen hat besonders in höheren Dosen starke Nebenwirkungen. Dazu zählen Benommenheit, Schwindel, Kopfschmerzen, Verwirrtheit, Muskelsteife, übermäßiges Schwitzen, Juckreiz, abnorme Muskelbewegungen, Taubheit oder verwaschene Sprache. Sogar schwere Vergiftungserscheinungen und Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma sowie Krampfanfälle und Herzstillstand mit Todesfolge können vorkommen. Außerdem gibt es Hinweise auf eine erhöhte Suizidgefahr. Für die behandelnden Notfallmediziner ist es in solchen Fällen schwierig, eine Vergiftung mit Baclofen von dessen Entzugserscheinungen zu trennen, weil sich die Symptome ähneln. Neben der eigenen Beschaffung durch Patienten verschreiben auch Ärzte Baclofen als Off-label Therapie – die Dunkelziffer ist unbekannt. Chaignot und Kollegen untersuchten Off-Label Verschreibungen in Frankreich und fanden bei Patienten, die mit Baclofen behandelt wurden, ein erhöhtes Risiko für Krankenhauseinweisungen (+13 %) und Todesfälle (+31 %) im Vergleich zu Patienten, die mit zugelassenen Medikamenten behandelt worden waren. Dieses Risiko stieg bei Dosen über 180 mg auf +46 bzw. +127 Prozent.
Die aktuelle S3-Leitlinie zeigt, dass es große Lücken im Umgang mit der Alkoholabhängigkeit gibt. Außerdem belegen aktuelle Zahlen, dass der Bedarf an Therapien groß ist. Dem kürzlich erschienenen Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung zufolge sterben jährlich in Deutschland 21.000 Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums. Rund 18 % der Männer und 14 % der Frauen weisen demnach hierzulande einen riskanten Alkoholkonsum auf. Bei den Frauen ist er in der hohen Sozialstatusgruppe am höchsten, während sich bei Männern diesbezüglich keine eindeutige Tendenz feststellen lässt. Die Diagnose „Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“ ist bei Männern der häufigste Grund für eine Aufnahme im Krankenhaus. Obwohl es einige positive Trends gibt, liegt Deutschland beim Alkoholkonsum im internationalen Vergleich weit vorn und zählt zu den Hochkonsumländern. Die genauen Ursachen der Alkoholsucht sind nicht bekannt, es handelt sich um ein multifaktorielles Zusammenspiel von genetischen und Umweltfaktoren, Persönlichkeitsmerkmalen und kognitiven Ursachen. Abhängigen wird in der Regel eine Therapie mit körperlicher Entgiftung, qualifizierter Entzugsbehandlung und medizinischer Rehabilitation angeboten. Auch Verhaltenstherapien und Selbsthilfegruppen führen in vielen Fällen zu guten Erfolgen. Dabei ist die lebenslange Abstinenz von Alkohol das allgemein anerkannte Therapieziel. Allerdings werden diese Maßnahmen nur wenig genutzt: 200.000 Behandlungen stehen 1,6 Millionen Krankenhauspatienten mit Alkoholproblematik jährlich gegenüber.
Alkohol beeinflusst mehrere Neurotransmittersysteme im Gehirn und aktiviert das Belohnungssystem durch die Freisetzung von Dopamin. Dies schafft eine neurobiologische Grundlage für den potenziellen Nutzen von Medikamenten zur Senkung des Alkoholkonsums und zur Behandlung der Sucht. Jedoch gibt es nur wenige zugelassene Wirkstoffe, und weniger als zehn Prozent der Betroffenen erhalten eine medikamentöse Therapie. Disulfiram hemmt die Aldehyddehydrogenase, sodass beim Konsum von Alkohol Acetaldehyd entsteht, das zu Vergiftungserscheinungen wie schweren Kopfschmerzen und Übelkeit führt. Dies soll das Trinken verleiden. Da die Vergiftung lebensgefährlich werden kann, wird diese Option nicht mehr genutzt. Nalmefen soll die angenehmen Wirkungen von Alkohol im Gehirn unterdrücken, während Acamprosat und Naltrexon das Substanzverlangen hemmen. Aufgrund der häufigen psychischen und somatischen Begleiterkrankungen bei Alkoholikern ist ihr Einsatz oft eingeschränkt.
Die ANSM nennt „die verfügbaren Daten, einschließlich der von den verschiedenen Interessengruppen gemeldeten klinischen Erfahrungen, und das gravierende Problem der Alkoholproblematik in der öffentlichen Gesundheit“ als Begründung für die erweiterte Zulassung von Baclofen. Gleichzeitig beschränkt sie den Einsatz auf eine Höchstdosis von 80 mg pro Tag und lässt sich eine Hintertür offen: „Auf der Grundlage weiterer Beobachtungen und der Entwicklung verfügbarer wissenschaftlicher Daten könnte die ANSM möglicherweise die Anwendungsbedingungen von Baclofen in dieser Indikation revidieren.“ Wahrscheinlich erhofft man sich dadurch mehr Kontrolle über die Therapie und weniger schwere Zwischenfälle, wenn sie nicht selbständig durchgeführt, sondern von Ärzten verschrieben und begleitet wird.