Ob Schilddrüsenknoten, Brustschmerz oder Harnwegsinfekt: Testergebnisse hängen stark davon ab, ob der Patient beim Haus- oder Facharzt ist. Warum das so ist und was das für die Praxis bedeutet, lest ihr hier.
Es ist schon beachtlich, was die medizinische Community da seit etlichen Jahren auf die Beine stellt: Alle paar Tage erscheint auf der Webseite der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, kurz AWMF, eine neue oder aktualisierte Leitlinie. Inzwischen hat sie etwa 800 Leitlinien im Bestand. Mehr sollten es auch nicht werden, sagt Rolf-Detlef Treede, Präsident der AWMF, in seinem Grußwort bei der 34. Leitlinienkonferenz der AWMF Mitte Dezember. Für die Online-Konferenz hatten sich über 80 Fachleute ein paar Stunden in ihren Terminkalendern freigeschaufelt.
Ein Schwerpunkt der Konferenz war das Setting, in dem Patienten versorgt werden: Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob ein Patient in die Hausarztpraxis, in die Facharztpraxis oder in die Klinik kommt. Das sind „unterschiedliche Welten“, sagt Monika Nothacker von der AWMF. Weil Hausärzte das ganze Krankheitsspektrum abdecken, ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit einer bestimmten Krankheit in die Praxis kommt, wesentlich geringer als in der Facharztpraxis oder Klinik.
In der Hausarztpraxis bewegt man sich im „Niedrigprävalenzbereich“, sagt Jeannine Schübel von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, DEGAM. Das bedeutet für Untersuchungen: Deren Vortestwahrscheinlichkeit ist deutlich geringer als in anderen Settings. Auch wenn es erst einmal kontraintuitiv klingt – ein positiver Test ist beim Hausarzt seltener korrekt als beim Facharzt. Schübel nennt als Beispiel Verhärtungen in der Schilddrüse. Aus fachärztlicher Sicht ist vor allem das Schilddrüsenkarzinom interessant, deshalb gab es Diskussionen darüber, ob es neben der Leitlinie zum Karzinom, die derzeit erarbeitet wird, überhaupt noch eine eigene Leitlinie zum Schilddrüsenknoten braucht.
Ja, braucht es: Denn während von den Patienten mit Schilddrüsenproblemen, die zum Spezialisten gehen, 15 % Krebs haben, sind es beim Generalisten unter 1 %. Das hat zum Beispiel Auswirkungen auf den positiven Vorhersagewert einer Ultraschalluntersuchung: Während nur 2 % der Patienten, bei denen der Hausarzt im Ultraschall einen Knoten findet, wirklich Krebs haben, sind es beim Facharzt fast 30 %.
Ein anderes Beispiel ist der Brustschmerz. Eine Patientin, 54, mit Belastungsangina und früherem Infarktverdacht, deren Beschwerden sich mit Nitro-Spray bessern, hat beim Hausarzt mit 21-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine Herzkreislauf-Erkrankung, in der kardiologischen Ambulanz dagegen mit 70-prozentiger. „Kommt einem erstmal total komisch vor“, sagt Schübel. Aber ist so. Deshalb sei es so wichtig, dass Generalisten und Spezialisten in den Leitliniengruppen zusammenarbeiten und die jeweilige Perspektive einbringen.
Einen Fall, bei dem das Zusammenwirken besonders gut gelungen ist, schildert Monika Nothacker: In der Leitlinie zu Harnwegsinfektionen von 2010 wurde das Antibiotikum Trimethoprim zur Behandlung unkomplizierte Harnwegsinfekte nicht empfohlen. Der Grund: Daten der Antibiotika-Resistenz-Surveillance hatten Resistenzen von 25 % ergeben, was über der akzeptablen Grenze von 20 % liegt.
Weil in der Hausarztpraxis aber eine andere Klientel versorgt wird, lag der Verdacht nahe, dass dort die Resistenzen unter 20 % liegen. Um hier den Dissens zwischen Hausärzten und Fachärzten aufzulösen, wurde die Studie SAHRA aufgelegt. In Urinproben aus Hausarztpraxen zeigte sich dann tatsächlich, dass dort nur 15 % der Proben resistente Erreger enthielten. So konnte in der aktuellen Fassung der Leitlinie das Antibiotikum zur Erstlinientherapie wieder aufgenommen werden.
Der Fall deutet auf ein grundsätzliches Problem hin: Studiendaten werden überwiegend im klinischen Setting erhoben, die Hausarztperspektive bleibt dann zwangsläufig auf der Strecke. Auf die Frage von Monika Nothacker, ob man deshalb mehr Studien in den Hausarztpraxen machen sollte, weist Alkomiet Hasan von der Uniklinik Augsburg und dem Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit auf einen nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen Setting und Bürokratie hin: Je ausufernder die bürokratischen Ansprüche, desto eher landen Studien in der Klinik.
Wie wichtig es ist, das Setting in der Leitlinienarbeit zu berücksichtigen, ist in den Vorträgen und Wortmeldungen allgemeiner Konsens. Ein wenig Uneinigkeit gibt es bestenfalls bei Randthemen: Mehr in einer Nebenbemerkung wirft Alkomiet Hasan in seinem Vortrag die Frage auf, welchen Wert es habe, die spezielle Ausprägung einer Demenz zu diagnostizieren, wenn es am Ende – ob nun zum Beispiel Alzheimer-, Vaskuläre- oder Lewy-Körperchen-Demenz – ohnehin keine Therapie gäbe. „Benennen ist Bannen“ meint daraufhin ein vehementer Fürsprecher einer Diagnose – um der Diagnose willen, „weil viele Patienten zufrieden sind, wenigstens zu wissen, was sie haben, wenn man ihnen schon nicht helfen kann“. Eine andere Teilnehmerin sieht es dagegen „fast als ethisch fragwürdig“ an, jemanden mit einer Diagnose ohne Aussicht auf Therapie womöglich in tiefe Verzweiflung zu stürzen – also eher „Benennen ist Banane“.
Ein Vorschlag findet ebenfalls keine Zustimmung: Als Instrument zur Lenkung unterschiedlicher Patientengruppen schlägt ein Teilnehmer vor, besonders in arztärmeren Regionen Risikostratifizierungsambulanzen einzurichten. Für einen anderen liegt das Heil eher in einer digitalen Steuerung. Eine weitere Versorgungsebene ins ohnehin fragmentierte Gesundheitswesen einzuziehen, macht für ihn dagegen wenig Sinn.
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