Eigentlich soll Methylphenidat Menschen mit ADHS helfen, ihren Alltag besser zu bewältigen. Doch immer mehr Jugendliche schlucken das Medikament, um ihre Leistungen in Schule und Studium zu steigern. Das kann fatale Folgen haben, wie eine aktuelle Studie zeigt.
Von 8.000 auf knapp 30.000 ist die Zahl der Fehltage, die auf das Konto von Hirndoping gehen, in den vergangenen zehn Jahren gestiegen – so der AOK-Fehlzeiten-Report 2013. Fünf Prozent aller Erwerbstätigen gaben im Zuge einer AOK-Umfrage an, in den letzten 12 Monaten ohne medizinische Notwendigkeit leistungssteigernde Medikamente eingenommen zu haben. Bei den unter 30-Jährigen dopten sich sogar gut acht Prozent.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam der Soziologe Sebastian Sattler von der Universität Bielefeld bei einer Befragung von 3.486 zufällig ausgewählten Studenten an vier großen Universitäten in Deutschland: Knapp fünf Prozent gaben an, ihre Leistungsfähigkeit schon einmal durch Medikamente gesteigert zu haben. 40 Prozent von ihnen hatten mindestens einmal im vorangegangenen halben Jahr zu leistungssteigernden Mitteln gegriffen, jeder Vierte mehr als dreimal. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein großer Anteil der Bevölkerung kognitive Stimulantien konsumiert“, schreiben auch die Autoren einer aktuellen US-amerikanischen Studie. Gerade unter Schülern und Studenten nehme der Leistungsdruck immer mehr zu. Häufig greifen die Betroffenen dabei auf den Wirkstoff Methylphenidat zurück, der unter dem Handelsnamen Ritalin® zur Behandlung der Aufmerksamkeitsstörung ADHS verschrieben wird. Auf dem US-amerikanischen Schwarzmarkt ist Methylphenidat der meistgehandelte Wirkstoff unter Schülern und Studenten. Um länger wach bleiben zu können und um ihre Leistung zu steigern, greifen die Jugendlichen vor allem vor Prüfungen zu dem Medikament.
„Das bleibt nicht ohne Folgen“, warnen die Wissenschaftler. Denn gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis zum etwa 30. Lebensjahr sei der präfrontale Cortex noch nicht gänzlich entwickelt. Bis zur völligen Ausreifung sei dieses Hirnareal besonders empfindlich gegenüber Schwankungen bestimmter Metaboliten wie Dopamin oder Norepinephrin. „Veränderte Konzentrationen dieser wichtigen Neurotransmitter können die Ausreifung des präfrontalen Cortex stören und für bleibende Verhaltensänderungen sorgen“, so die Wissenschaftler. In Versuchen an Jungratten sehen die Forscher ihre Vermutungen bestätigt: Verabreichten sie den Tieren niedrige Dosen des Ritalin-Wirkstoffs, war die Erregbarkeit der Neuronen im präfrontalen Cortex erniedrigt. Metaboliten, die Gefühle und Verhalten prägen, wurden dadurch in anderem Maße ausgeschüttet als ohne Methylphenidat.
Im Gegensatz zu anderen Hirnregionen weist der präfrontale Cortex einen hohen Anteil eines bestimmten Rezeptortyps aus. „Die daraus resultierende hohe Plastizität ist Grundlage für das Arbeitsgedächtnis und die aktive Entscheidungsfindung“, erklären die Wissenschaftler. Hirndopingmittel wie Methylphenidat, oder auch das Narkolepsie-Medikament Modafinil, können die Plastizität dieser Region langfristig schädigen. Auch hierzu gibt es einen eindrücklichen Tierversuch: Erhalten junge Ratten geringe Mengen an Methylphenidat oder Modafinil, nimmt der spezifische Rezeptortyp im präfrontalen Cortex ab. Dadurch erhöht sich zwar kurzfristig die Aufmerksamkeit der Tiere, langfristig leiden darunter jedoch ihre Flexibilität und ihre Lernfähigkeit, wie die Forscher erklären.
Diese Erkenntnisse lassen die Forscher vermuten, dass Methylphenidat auch bei Kindern, die fälschlicherweise mit dem Medikament behandelt werden, ohne tatsächlich unter ADHS zu leiden, fatale Folgen haben könnte. Zunächst werde sich höchstwahrscheinlich eine Verbesserung des Zustandes einstellen, prognostizieren die Wissenschaftler. Die betroffenen Kinder könnten dem Lehrer besser folgen, ihre Hyperaktivität werde gebremst und ihre Lernerfolge verbesserten sich. Langfristig beeinträchtige das Mittel das Arbeitsgedächtnis und die Flexibilität des Verhaltens dieser Kinder erheblich und mit wahrscheinlich lebenslangen Folgen. Denn diese Fähigkeiten seien selbst bei alltäglichen Aktivitäten wie beim Autofahren und beim sozialen Umgang mit Mitmenschen unerlässlich. Die Wissenschaftler fordern daher, die Wirkung von Methylphenidat auf das Gehirn von Jugendlichen in weiteren Studien zu prüfen, um Risiken durch den Missbrauch dieser Substanz besser vorbeugen zu können.
Methylphenidat und andere Wirkstoffe, die die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit verbessern, gibt es nur auf Rezept. Die Studenten, die an Sebastian Sattlers Befragung teilgenommen hatten, äußerten sich dazu folgendermaßen: Die meisten gaben an, die Medikamente von Freunden, Bekannten oder Familienmitgliedern erhalten zu haben, die unter den entsprechenden Erkrankungen leiden und die Medikamente von ihrem Arzt verschrieben bekommen haben. Auch durch Täuschen des Arztes, Bestellungen im Internet, den Schwarzmarkt oder durch einen Arzt unter der Hand kamen die Jugendlichen nach eigenen Aussagen an die verschreibungspflichtigen Medikamente.