Welchen Einfluss haben Lobbyorganisationen auf die Politik? Und wo werden Entscheidungen für unser Gesundheitssystem getroffen? Das Seminar „Gesundheitspolitik live“ lieferte 20 Studierenden aus Gesundheitsberufen einen Einblick. DocCheck war dabei.
Berlin, 19.05.2014: Zusammen mit 20 anderen Studierenden dränge ich mich durch die Sicherheitsschleuse eines Gebäude des deutschen Bundestages Unter den Linden. Ausgestattet mit einem Besucherausweis und jeder Menge Infomaterial für das dreitätige Intensivseminar „Gesundheitspolitik live“ werden wir von der gesundheitspolitischen Sprecherin der Grünen Maria Klein-Schmeink und Prof. Eberhard Göpel, dem Initiator dieses Seminars, begrüßt. Das über Teilnehmerbeiträge finanzierte Seminar findet dieses Jahr zum ersten Mal als Kooperationsprojekt der Alice-Salomon-Hochschule Berlin mit dem Verband Hochschulen für Gesundheit e.V. statt. Im Interview erklärt Prof. Göpel seine Intention für das Seminar so: „Unser Interesse ist, Studierende mit den Entscheidungsprozessen an Hochschulen und in der Gesundheitspolitik vertraut zu machen. Dies ist jetzt ein erster Versuch, über allgemeine Fragen der Gesundheitspolitik zu informieren.“ Nach einer kurzen Kennlernrunde bin ich überrascht von der Vielfältigkeit der Teilnehmer: Nur wenige studieren Medizin. Einige haben eine Ausbildung in der Versicherungsbranche absolviert, andere studieren Präventions- und Gesundheitspsychologie, Health Studies, Sozialwissenschaften oder Pflegemanagement. Mit diesen ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Gesundheitssystem beginnt das Seminar mit einem Vortrag von Prof. Unschuld zum Thema „Ware Gesundheit“. Wir werden mit der These konfrontiert, dass es längst einen Umbruch von einer Gesundheitspolitik zu einer Gesundheitswirtschaft gegeben hat. So hatte die Politik zu Beginn der Sozialsysteme in Deutschland im 19. Jahrhundert großes Interesse an einer guten „Volksgesundheit“, um die Produktivität der Arbeiterschaft beziehungsweise Wehrhaftigkeit der Armee zu sichern. Heutzutage spielen diese Faktoren keine Rolle mehr. Stattdessen hat sich Gesundheit zu einem begehrten Handelsgut und ertragreichen Wirtschaftszweig entwickelt, den es zu stärken gilt. Diese These und welche Maßnahmen zum Erhalt der Sozialsysteme ergriffen werden können, diskutieren wir kontrovers.
Darauf hält ein ehemaliger Pharmareferent einen Vortrag zum „System Pharma“. Er ist vor 15 Jahren aufgrund moralischer Bedenken aus der Pharmabranche ausgestiegen und erläutert, welche Marketingstrategien die Unternehmen nutzen, um ihre teilweise wirkungslosen Präparaten zu verkaufen. Wir erhalten einen Einblick in den Umgang mit den Ergebnissen pharmafinanzierter Studien, deren Veröffentlichung überraschend häufig davon abhängig gemacht wird, ob die Studienaussage für oder gegen das Pharmaprodukt spricht. Außerdem veranschaulicht uns der Vortragende, wie sich Pharmareferenten weltweit untereinander vernetzen und so eine Datenbank aus Ärzten aufbauen, die für die Pharmawerbung besonders empfänglich sind. Als besonders gefährlich betrachtet er das Aufkommen von Smartphones und Tablets mit Kameras und Mikros, da hier die Gespräche und Reaktionen der Ärzte direkt mitgeschnitten werden können. Im Anschluss beginnt eine Podiumsdiskussion mit den Gesundheitspolitischen Sprecherinnen der Grünen (Maria Klein-Schmeink) und der Linken (Kathrin Vogler). Dabei skizzieren die beiden Gesundheitspolitikerinnern der Opposition, was gesundheitspolitisch in dieser Legislaturperiode vom Bundestag zu erwarten ist. Hierbei sind vor allem der Masterplan „Medizinstudium 2020“ und eine Reform der Krankenhausfinanzierung für Medizinstudenten von großer Bedeutung. Der Masterplan „Medizinstudium 2020“ soll eine Reform des Studiums hin zu mehr Allgemeinmedizin, mehr Praxis und einen faireren Zugang zum Studienplatz nach sich ziehen. Ausgearbeitet wird der Plan vermutlich 2015 in einer Konferenz der Wissenschafts-, Kultus- und Gesundheitsminister von Bund und Ländern. Auch die Krankenhausfinanzierung wirkt sich auf die Ausbildung vieler Jungmediziner aus: Insbesondere die Universitätsklinika laufen defizitär und können so nur wenig Personal für gute Lehre wie den Unterricht am Krankenbett bereitstellen. Viele Themen können wir jedoch aufgrund der beschränkten Zeit leider nur anreißen, wir bekommen aber auch einige persönliche Einblicke in die Lebenswege der Politikerinnen.
Tag zwei des Seminars findet in der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin statt. Hier hält Dr. Wolfgang Wordarg, ehemaliger Abgeordneter des Bundestages, einen Vortrag zu den Aufgaben der Politik im Gesundheitswesen. Diese sieht er vor allem in einer Regulierung der Gesundheitsbranche, Regelungen für mehr soziale Gerechtigkeit und den damit einhergehenden Erhalt des Sozialstaates. Außerdem unterstreicht auch er, dass es längst zu einem Wandel in der Gesundheitspolitik hin zu einer Gesundheitswirtschaft mit vielen gegensätzlich laufenden Interessen gekommen sei. Zudem greift er einige Beispiele aus seiner eignen Biografie auf, wie Gesundheitspolitik auf Landes- und kommunaler Ebene erfolgreich sein könne. Im Anschluss formieren sich kleine Diskussionsgruppen: Zu den Themen Pflege, Forschung und der Gesundheitsprävention diskutieren wir etwa eineinhalb Stunden, um darauf in einer gemeinsamen Auswertung unsere Problemanalysen, Lösungsansätze und Forderungen vorzustellen. Im folgenden Presse- und Kommunikationstraining lernen wir, unsere Anliegen zu formulieren und in einem Fernsehinterview zu präsentieren. Eine Forderung von Gesine Tharun, Studentin der Präventions- und Gesundheitspsychologie, zum Thema Pflege klingt zum Beispiel so: „Ich wünsche mir eine Art Lobby für pflegende Angehörige, damit deren Situation in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird und sich die Situation für pflegende Angehörige verbessert.“ Am weiteren Nachmittag wenden wir uns der politischen Projektarbeit zu. Das zivilgesellschaftliche Projekt „Forschungswende“ stellt sich vor. Dieses möchte die Vergabe von Forschungsmitteln und die damit einhergehende Schwerpunktsetzung der öffentlichen Forschung demokratischer gestalten. Damit sollen globale Themen wie Klimawandel, Welternährung und Ressourcenknappheit stärker in den Vordergrund gerückt werden.
Der dritte Tag des Seminars findet im Berliner Regierungsviertel statt. Eine Vertreterin des Vereins LobbyControl e.V. führt uns zunächst über zwölf Stationen zu verschiedenen Lobbyvertretungen und deren Einflussgebieten. So beginnt unsere Führung am Deutschen Presseamt mit einer doch recht beeindruckenden Zahl: Pro Abgeordnetem gibt es in Berlin etwa 8 Lobbyisten – in Brüssel sind es sogar zwischen 20 bis 40. An der ältesten Lobbyvertretung, dem deutschen Brauer-Bund, erfahren wir, auf welchen Wegen Einfluss auf die deutsche Alkoholgesetzgebung genommen wird. So verleiht der Brauer-Bund jedes Jahr den Titel „Botschafter des Bieres“. Dieser geht häufig an Agrar-, Umwelt- oder Landwirtschaftsminister. 2013 war Peter Altmeier Botschafter des Bieres. Den Abschluss findet die Stadtführung vor einem leicht zu übersehenden Aufzug in der Akademie der Künste. Nur das kleine goldene Schild „China Club Berlin“ gibt einen Hinweis auf den exklusivsten Lobbyclub Berlins. Lediglich 700 Mitglieder wurden nach einer Einmalzahlung von 10.000 Euro (Unternehmen zahlen bis zu 200.000 Euro) und der Leistung eines Jahresbeitrags von 2.500 Euro von dem Auswahlkomitee bisher zugelassen. In den dekadent, im chinesischen Kolonialstil des 19. Jahrhunderts, eingerichteten Räumen kann man dann in vielen Separees genügend Privatsphäre finden, um diese Investitionen schnell zu amortisieren. Von der Dachterrasse des Clubs hat man einen wunderbaren Ausblick auf das Zielobjekt des Lobbyismus: Das Berliner Regierungsviertel. So kann bei manchem „Interessenvertreter“ der Eindruck entstehen, er überblicke hier seinen Herrschaftsbereich. Olga Sawicki, Medizinstudentin aus Berlin, zeigt sich wenig erstaunt vom Einfluss der Lobbyverbände auf die Politik: „Nein, ich bin nicht überrascht. Schon im Medizinstudium wird einem bewusst, welchen Einfluss große Unternehmen haben.“
Auf die Stadtführung folgt ein weiteres Treffen in den Räumen des Bundestages mit dem stellvertretenden Vorsitzendem des Gesundheitsausschusses Ruldoph Henke. Er berichtet aus seiner langjährigen Erfahrung als Abgeordneter: So vergleicht er die Politik mit einem großen Öltanker, dessen Kurs nur sehr langsam zu verändern ist. Zudem können wir mit ihm über die anstehende Pflegereform und die Finanzierung von Krankenhäusern diskutieren. Letzte Station des Seminars wird das Haus der Gesundheitsberufe in Berlin. Hier stellt Dietmar Erdmeier, Vertreter des DGBs, das „Bündnis für gute Pflege“ vor. Dabei erläutert er ganz praktische Probleme in der verbandsübergreifenden Lobbyarbeit. Schließlich muss man viele unterschiedliche Interessen unter einem gemeinsamen Ziel, wie einer guten Pflegereform, vereinen. Zudem erklärt er uns, wie man Vorschläge an die Politik am geschicktesten einbringt. Sinnvoll sei es vor allem, an die Referenten in den Ministerien heranzutreten, da sie die ersten Entwürfe für ein neues Gesetzesvorhaben schrieben. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren würden diese dann von den Ausschüssen des Bundestages und vom Regierungskabinett bearbeitet. Und natürlich ist es leichter bestimmte Punkte nicht zu streichen, anstatt sie neu in einen Gesetzestext aufzunehmen. Zudem stellte sich die Bundesstudierendenvereinigung der Gesundheitsberufe vor, die sich für eine interprofessionelle Studierendenvertretung einsetzt.
Rückblickend vermittelte das Seminar gesundheitspolitisch interessierten Studierenden einen guten Einblick in die Gesundheitspolitik und deren Akteure. Sicher gab es noch einige Geburtsfehler: Es blieb zum Beispiel zu wenig Zeit für die Diskussionen untereinander und mit Politikern, die Abstimmung der Vorträge aufeinander kam zum Teil recht holprig daher und das Pressetraining hätte intensiver sein können. Daher meint Angela Rentschler, Sozialmanagementstudentin, zum Seminar: „Es war fast zu kurz, um die Gesundheitspolitik in ihrer Breite zu erfassen. Vielleicht könnte man das nächste Mal eine Gesundheitswoche veranstalten. Ich würde das Seminar aber in jedem Fall weiterempfehlen.“ Auch die Initiator Prof. Göpel zeigt sich zufrieden: „Ich denke, es war ein lohnender erster Versuch Studierende über erste allgemeine Fragen zur Gesundheitspolitik zu informieren. Wir werden das in jedem Fall fortsetzen.“