Die Legalisierung von Cannabis hatte wider Erwarten keine eskalierenden Auswirkungen auf unsere Arbeit im Rettungsdienst – anders sieht es beim allgegenwärtigen Alkohol aus. Zwei Einsätze, zwei verschiedene Drogen und ein klares persönliches Fazit.
Es ist spät in der Nacht, als der Alarmempfänger geht. „C2, liegt am Gehweg“, sagt der Disponent. Bereits während der Anfahrt weiß ich, was uns erwartet – die Szene ist so vertraut wie das Geräusch der Reifen auf dem Asphalt. Wir fahren durch eine belebte Straße Schwabings, auf der Feierwütige schwanken und lallen. Der Alkohol hat seine Spuren hinterlassen, seine Fratze zeigt sich in der Nacht.
Als wir ankommen, liegt ein junger Typ auf dem Gehweg. Sein Gesicht ist weiß wie ein Bettlaken, die Augen halb geschlossen, überall Erbrochenes. Zwei Freunde, ebenfalls hart angesoffen, beugen sich über ihn und gestikulieren, als wollten sie ein Konzert dirigieren. Ihre Sprache ist eine Mischung aus Sorge und Aggression, die Worte vermischen sich mit Flüchen gegen uns, gegen die Rettungskräfte, die sie riefen, aber denen sie zutiefst misstrauen.„Warum dauert das so lange? Ihr Idioten, helft ihm doch mal!“, brüllt einer und packt mich am Arm. Alkohol hat ihn mutiger gemacht, als er sein sollte. Die Stimmung kippt und schnell wird aus unserem Versuch der Hilfe ein gefährliches Tauziehen. Der Betroffene selbst erwacht kurz, schnappt nach Luft und beginnt sich zu wehren. Seine Fäuste schlagen ohne zu Zielen durch die Luft, sein Gesicht verzerrt sich zu einer Maske aus Verwirrung und Wut. Die Flasche Wodka, die neben ihm auf dem Gehweg zerschellt ist, hat ihm den letzten Rest Verstand genommen.
Es ist wie ein Tanz auf einem Vulkan – jeder falsche Schritt könnte zur Eskalation führen. Der Typ versucht, sich loszureißen, schwankt zwischen Bewusstsein und Ohnmacht. Ich spüre den Druck, rasch zu handeln, und gleichzeitig die ständige Bedrohung, die von seiner Aggressivität und der seiner Freunde ausgeht. Letztlich gelingt es uns, ihn zu stabilisieren, aber der Einsatz hinterlässt auch Spuren. Nicht auf den Körpern, sondern in den Köpfen. Jeder Einsatz mit alkoholisierten Personen hat etwas Unberechenbares mit explosivem Potential, das jederzeit detonieren kann.
Hier zeigt sich das volle Ausmaß der Eskalation und des Chaos, das Alkohol auf das menschliche Verhalten ausüben kann. Die Stimmung kann in Sekundenschnelle kippen. Was mit einem betrunkenen Lächeln beginnt, verwandelt sich nicht selten in wilde Aggression, wenn der Geist unter der Last des Alkohols kollabiert. Schimpfworte, Widerstände gegen die medizinische Versorgung und körperliche Auseinandersetzungen sind nahezu an der Tagesordnung im städtischen Rettungsdienst. Blut, Schweiß und Tränen – diese drei Elemente dominieren alkoholbedingte Einsätze, die für uns im Rettungsdienst immer wieder zur Belastungsprobe werden.
Zwei Einsätze später. „Verdacht auf Kniescheibenluxation, Cannabis konsumiert.“ Wir fahren in ein gemütliches Wohnviertel, die Straßen sind mittlerweile leer. Als wir ankommen, sitzen zwei Männer auf dem Gehweg vor einem alten Backsteinhaus. Einer von ihnen hat sichtlich Schmerzen und hält sich das Knie, während der andere gelassen an einer Zigarette zieht. Der süßlich-erdige Geruch von Cannabis hängt in der Luft, die Atmosphäre ist das genaue Gegenteil von dem, was wir beim alkoholisierten Mann erlebt haben.
„Hey, alles gut? Mein Kumpel hier hat sich das Knie verrenkt. Wir dachten, es wäre besser, euch zu rufen“, sagt der Mann, der sich gerade tiefenentspannt zurücklehnt und uns freundlich zunickt. Seine Augen sind leicht glasig, aber es liegt keine Spur von Aggression oder Misstrauen in seiner Stimme. Wir hocken uns hin, untersuchen das Knie des Patienten, und es wird schnell klar, dass es sich tatsächlich um eine Patellaluxation handelt – schmerzhaft, aber nicht lebensbedrohlich.
Der Verletzte, der ebenfalls etwas benebelt wirkt, verzieht vor Schmerz das Gesicht, doch er bleibt freundlich und kooperativ. „Jungs, ich weiß, das sieht schlimmer aus, als es ist, aber tut mir leid, dass ihr deswegen hier raus musstet“, sagt er mit einem schiefen Lächeln. Kein Fluchen, kein Drohen, keine aggressive Körperhaltung – stattdessen ein ruhiger, fast gelassener Dialog. Sein Kumpel erklärt uns in aller Ruhe, dass sie kurz zuvor ein paar Joints geraucht haben, um den Abend ausklingen zu lassen. Niemand zeigt die geringste Feindseligkeit.
Es gibt sogar Raum für ein Gespräch über den besten Weg, sich von einer solchen Verletzung zu erholen. Der Konsum von Cannabis, so scheint es, hat hier keinerlei eskalierende Wirkung. Im Gegenteil: Die gesamte Situation ist entspannt, und das Gefühl von Kontrolle und Kooperation überwiegt. Es dürfte wenig überraschend sein, dass wir die Patella ohne Analgesie reponieren konnten.
Diese beiden Einsätze sind natürlich gezielt ausgewählt – stehen aber symbolisch für das, was wir im Rettungsdienst seit Jahren erleben: Alkohol bringt nicht nur körperliche Schäden mit sich, sondern entfesselt auch die dunklen Seiten menschlichen Verhaltens. Die enthemmende Wirkung des Alkohols ist wie ein Brandbeschleuniger, der in Sekunden aus einer harmlosen Situation eine lebensgefährliche machen kann. Aggression, Widerstand gegen Hilfe und manchmal auch Gewalt gegen Rettungskräfte gehören hier zum traurigen Alltag.
Cannabis hingegen scheint eine völlig andere Dynamik zu entfalten. Einsätze, die in Verbindung mit Cannabiskonsum stehen, sind in meiner Erfahrung selten geprägt von Eskalation. Stattdessen erleben wir meist ruhige, fast entspannte Situationen, in denen die Patienten kooperativ und zugänglich sind. Natürlich gibt es medizinische Risiken im Zusammenhang mit Cannabis, die hier auch nicht verharmlost werden sollen. Aber in den Einsätzen, die wir erleben, bleibt die Atmosphäre weit entfernt von der Konfliktbeladenheit alkoholbedingter Notfälle.
Aus meiner persönlichen Perspektive als Notfallsanitäter im Rettungsdienst ziehe ich ein klares Fazit: Seit der Legalisierung von Cannabis hat sich im Rettungsdienst nicht das düstere Szenario entfaltet, das viele befürchteten. Weder sind die Einsätze in meiner subjektiven Empfindung aufgrund von Cannabiskonsum sprunghaft angestiegen, noch hat sich die Zahl der Verkehrsunfälle dramatisch erhöht.
Die größten Herausforderungen für uns Notfallsanitäter bleiben Einsätze mit alkoholisierten Personen, deren Aggressionen und unberechenbare Verhaltensweisen uns immer wieder an die Grenzen unserer Belastbarkeit bringen. Angesichts dieser Tatsache ist die juristische und gesellschaftliche Doppelmoral für mich nicht schlüssig und auch nicht akzeptabel. Ich verstehe vor allem nicht, weshalb mit Cannabiskonsumenten auch nach der Legalisierung so hart ins Gericht gegangen wird, obwohl die deutlich gefährlichere Droge überall nahezu frei verfügbar in allen Regalen steht.
Vermutlich geht’s wie so oft wieder mal ums Geld, denn wegfallende Steuereinnahmen des Alkohols würden den Staat schon sehr hart treffen. Dabei ist der Alkohol die Fratze des Exzesses. Und ganz ehrlich – wenn es nach mir persönlich ginge, könnte man Cannabis zukünftig auch im Supermarkt in verschiedensten Ausführungen kaufen – sofern der Alkohol dafür restlos verschwinden würde. Für diese Meinung muss ich Cannabis noch nicht einmal selbst konsumieren.
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