Wenn meine Patienten im Gefängnis eine Gefahr für sich oder andere darstellen, muss ich sie in speziellen Zellen isolieren. Warum das oft nur kurzfristig etwas bringt – und mich hilflos zurücklässt.
Es gibt Dialoge, die finden so nur in einem Gefängnis statt.
Mittagspause: „Brauchst du was von Penny?“
„Schnaps, aber nicht den billigen.“
„Penny hat nur billigen. Ich kann noch ein paar Meter weiter zum Bahnhof und ne Nase Koks besorgen.“
„Passt.“
Oder:
„Onaniert die 53 immer noch?“
„Jap! Ununterbrochen seit heute Vormittag um zehn. Hat nicht mal zum Mittagessen abgesetzt.“
„Uärgh!“
„Soll ich dich anfunken, wenn er aufgehört hat?“
„Gerne.“
Zum Hintergrund: Wir haben auf jeder Station sogenannte „besonders gesicherte Hafträume“ (BGH). Hier werden Gefangene mit Selbst- und Fremdgefährdung untergebracht. Es handelt sich um einen gekachelten, fensterlosen Raum, auf Körpertemperatur beheizt, ohne bewegliche Gegenstände. Toilettenpapier wird in einzelnen Blättern gereicht, und die Gefangenen sind mit einer Unterhose aus papiernem Material bekleidet. Warum Papier? Aus Stoff kann man Stricke knüpfen und sich aufhängen, ebenso aus Toilettenpapier. Man kann Dinge wie Rasierklingen, angespitzte Zahnbürsten und auch Drogen in Kleidung auch besser verstecken als in Körperöffnungen (ihr ahnt bereits, dass dies vorkommt).
Was wie eine Foltermethode anmutet, dient dem Schutz der Gefangenen und der Bediensteten. Grundsätzlich eine sinnvolle Sache, denn im Zustand des „high arousal“ ist ein reizarmer Raum durchaus hilfreich. Der Patient hat Raum, herunterzufahren und sich zu sortieren – und dazu wenig Möglichkeit, sich selbst oder anderen zu schaden. Das Schwierige an dieser Praxis ist, dass das „high arousal“ irgendwann vorbei ist. Nur dann sitzt der Kerl noch immer in der reizarmen Umgebung. Die Unterbringung im BGH muss durch einen Richter genehmigt werden. In der Regel wird die Genehmigung für 24 Stunden ausgesprochen. 24 Stunden sind lang, und sehr oft verkehrt sich der initial positive Effekt ins Gegenteil. Angst und Wut gewinnen nach ein paar Stunden die Oberhand. Schließlich stellt sich der Effekt der erlernten Hilflosigkeit ein. Dies wird interpretiert als „Schau, jetzt hat er sich beruhigt.“ Und in der Folge: „So eine Nacht im BGH schadet halt manchen nicht.“
In diesem Zustand finden die Gefangenen verschiedene Möglichkeiten der Selbstberuhigung. Manche singen, tanzen, vollziehen Schattenboxen, manche schlagen mit dem Kopf gegen die Wand, was ihren Aufenthalt leider noch weiter verlängert oder ihnen im Extremfall eine Fixierung einbringt. Einige beschäftigen sich ausgiebig mit ihren Exkrementen. Schmieren diese an die Wand, werfen oder sammeln sie, reiben sich damit ein. Und relativ oft wird onaniert; oft sehr ausgiebig. Manchmal gehen die verschiedenen Verhaltensweisen auch ineinander über.
Während ich hier in meiner Mittagspause im Büro sitze und das schreibe, höre ich ein rhythmisches Schlagen. Der Obdachlose von gestern Abend hat in der Nacht seine Zellengenossen angegriffen und war nicht mehr zu beruhigen (vermutlich eine drogeninduzierte Psychose). Seitdem sitzt er im BGH in Hörweite meines Büros. Momentan liegt er seit ca. einer Stunde auf dem Rücken vor der Haftraumtür und tritt mit den Füßen dagegen, als würde er Fahrradfahren. Als ich heute früh im Stationsbüro auf den Kameramonitor gesehen habe, fand ich ihn nackt in einer Position vor, die der Pflug-Asana beim Yoga glich (Rückenlage, Beine gestreckt nach hinten, bis die Zehenspitzen den Boden hinterm Kopf berühren) und defäzierte. Scheinbar versuchte er, sein eigenes Gesicht mit seinen Ausscheidungen zu treffen.
Manchmal, muss ich gestehen, habe auch ich keine Ahnung, was bei den Patienten obenrum so vor sich geht. Aber es ist auffallend, dass solch absurde Verhaltensweisen fast ausschließlich im BGH auftreten. Klar sperren wir auch überwiegend die schwer verhaltensauffälligen dort hinein, aber man kann sich dem Eindruck nur schwer erwehren, dass die Hospitalisierungseffekte dieser verliesähnlichen Umgebung die psychotischen Eskalationen, welche zunächst noch unter der Oberfläche gebrodelt haben, zum Ausbruch bringen.
Weil ich euch gerade hinter euren Bildschirmen schreien höre „solche Patienten gehören nicht in ein Gefängnis! Sie gehören fachgerecht behandelt! In einer Psychiatrie!“ – Ja. Hätten wir auch gern. Die Psychiatrien sind voll, und solange sich der Patient durch eine Nacht im BGH eine Zeitlang ruhigstellen lässt, wird gar nicht erst versucht, ihn unterzubringen. Nicht, weil wir ein bisschen sadistisch sind, sondern weil wir nunmal mit dem arbeiten müssen, was wir haben.
Bevor ihr jetzt über das Gefängnispersonal zu urteilen beginnt: Stellt euch vor, ihr müsstet einer menschlichen Furie Herr werden. Ihr werdet körperlich angegriffen, werdet im Gesicht bespuckt und noch während ihr im PC nachseht, welche ansteckenden Krankheiten ihr euch in den letzten zehn Minuten möglicherweise eingefangen habt, müsst ihr schon wieder zum Haftraum, weil der Gefangene seinen Spiegel zerschlagen und dann angefangen hat, sich mit einer Scherbe den Bauch aufzuschneiden.
Ich verstehe die Erleichterung, die eine Unterbringung im BGH für uns alle bedeutet. Wenn die Tür hinter diesem Chaos aus Schreien und Verzweiflung ins Schloss fällt, bleibt die Welt für einen Moment still, und das Gefühl der Machtlosigkeit wird durch eine trügerische Ruhe überdeckt. Doch während wir für einen Augenblick aufatmen, bleibt die Frage unausgesprochen: Ist dieser Raum eine Hilfe – oder ein Katalysator für das, was im Inneren längst zerbrochen ist?
Es bleibt die beunruhigende Gewissheit, dass wir hier oft nicht heilen, sondern unterdrücken. Der BGH ist ein Echo aus Kacheln und Leere, das alle Schmerzen, Ängste und Dämonen, die dort eingeschlossen sind, verstärkt zurückwirft. In dieser kargen Gefangenschaft verschwindet die Menschlichkeit – manchmal schleichend, manchmal wie ein Sprung ins Leere. Und so wird aus jedem Flüstern ein Schrei, aus jeder Wunde ein Abgrund.
Manchmal, wenn ich den Schlüssel drehe und den geschützten Vorraum des BGH verlasse, weiß ich nicht, wer am Ende hilfloser ist – die Gefangenen, die im Dunkeln zurückbleiben, oder wir, die glauben, dass diese Tür eine Antwort ist.
Bildquelle: Eri Pançi, Unsplash