Plötzlich wirkt die Welt verzerrt: Objekte erscheinen zu groß oder zu klein, dazu kommen akustische Halluzinationen und das Zeitgefühl gerät aus den Fugen. Wusstet ihr, dass hinter dem Alice-im-Wunderland-Syndrom auch Corona stecken könnte?
Der englische Psychiater John Todd prägte 1955 den Begriff „Alice-im-Wunderland-Syndrom“ (AIWS). Ähnlich wie die Romanfigur nehmen Patienten ihre Umgebung und ihren eigenen Körper verzerrt wahr. Dazu gehören Mikropsie (Objekte erscheinen kleiner, als sie sind), Makropsie (Gegenstände erscheinen größer), Teleopsie (Dinge sind subjektiv weiter entfernt) und Pelopsie (Sachen wirken näher als in Wirklichkeit).
Auch die Mikrosomatognosie, eine Wahrnehmungsstörung, bei der Betroffene das Gefühl haben, dass ihr eigener Körper oder einzelne Körperteile kleiner als in Wirklichkeit sind, kommt vor. Das Gegenteil, Makrosomatognosie genannt, wird ebenfalls beobachtet.
Ältere Studien nennen als Auslöser des AWIS Migräne (27,1 %), gefolgt von Infektionen (22,9 %), Hirnläsionen (7,8 %), Medikamenten (6 %), Drogenkonsum (6 %), psychiatrischen Störungen (3,6 %), Epilepsie (3 %) oder Erkrankungen des peripheren Nervensystems (1,2 %). Bei etwa 20 % aller Patienten finden Ärzte laut der Übersichtsarbeit keine Ursache.
Rund 65 % der Erkrankungen treten bei Kindern unter 18 Jahren auf – neuerdings auch in Zusammenhang mit COVID-19. Das zeigen zwei Fallberichte.
Die Eltern bringen ein achtjähriges Mädchen mit visuellen und akustischen Halluzinationen in die Notaufnahme. Bei ihr ist eine angeborene Toxoplasmose bekannt, jedoch ohne neurologische Folgen. Auch verlief ihre körperliche Entwicklung normal. Migräne oder Epilepsie gibt es in ihrer Familie nicht.
Die Halluzinationen treten während einer Fieberphase mit Temperaturen von bis zu 38,9 °C und Erbrechen auf. Die Patientin berichtet über Mikropsie, Makropsie, Teleopsie und Mikrosomatognosie. Zusätzlich gibt sie an, „beängstigende“ Schreie oder Geflüster zu hören.
In einigen Fällen treten diese Episoden gemeinsam mit Kopfschmerzen auf. Die Veränderungen der Wahrnehmung halten jeweils nur wenige Minuten an und verschwinden spontan. Auch nach Rückgang des Fiebers kommt es weiterhin zu ähnlichen Beschwerden.
Die neurologische Untersuchung ist ohne Befund; es liegen keine fokalen neurologischen Defizite vor. Der Augenhintergrund ist unauffällig. Sämtliche Laboruntersuchungen bleiben ergebnislos; nur ein Antigen-Test und ein PCR-Test auf SARS-CoV-2 geben Hinweise auf eine Infektion.
Zur weiteren Abklärung entschließen sich die Ärzte, eine Video-Elektroenzephalographie (EEG) durchzuführen. Bei dieser erweiterten Form der EEG-Diagnostik erfassen sie neben der elektrischen Aktivität des Gehirns auch Bild und Ton über einen längeren Zeitraum hinweg.
Während der Aufzeichnung hat das Mädchen eine Episode mit visuellen Symptomen, jedoch ohne epileptische Aktivität. Somit können die Ärzte eine Epilepsie ausschließen. Hinweise auf strukturelle Schäden oder entzündliche Prozesse im Gehirn zeigen sich im MRT nicht.
Zehn Tage nach der stationären Aufnahme können die Ärzte ihre Patientin in stabilem Zustand und ohne Fieber aus dem Krankenhaus entlassen. Ihre Symptome werden seltener, verschwinden jedoch erst nach zwei Monaten – ohne bleibende neurologische Defizite.
In einem ähnlichen Fall kommen Eltern mit ihrer sechsjährigen Tochter in die Notaufnahme. Es gibt weder Migräne noch Epilepsie oder andere neurologische Erkrankungen innerhalb der Familie.
Nach einer asymptomatischen, per Schnelltest nachgewiesenen SARS-CoV-2-Infektion hat das Mädchen wiederholt visuelle Halluzinationen, speziell Metamorphopsien und eine Chromatopsie, aber keine akustischen Halluzinationen. Die Beschwerden dauern einige Minuten und verschwinden spontan.
Auch hier sind die Laborwerte im Normbereich. Nur der Test auf SARS-CoV-2 fällt – wie von den Eltern vermutet – positiv aus. Im Video-EEG und im MRT finden die Ärzte nichts Auffälliges. Nach Abklingen der SARS-CoV-2-Infektion zeigt die junge Patientin keine Symptome mehr. Sie wird in stabilem Zustand aus dem Krankenhaus entlassen.
Aufgrund des klinischen Bildes, der normalen neurologischen und ophthalmologischen Befunde sowie der EEG- und MRT-Ergebnisse haben die Autoren in beiden Fällen das AIWS diagnostiziert. Es wurde vermutlich durch die SARS-CoV-2-Infektion ausgelöst. Beide Patientinnen hatten keinen vollständigen Impfschutz. In diesem Alter rät die Ständige Impfkommission nur bei Kindern mit Risikofaktoren zu Impfungen gegen COVID-19.
„Kinder, die unter visuellen oder akustischen Halluzinationen leiden – selbst, wenn die Beschwerden isoliert auftreten –, sollten daher auf eine SARS-CoV-2-Infektion untersucht werden“, schreiben die behandelnden Ärzte. Ihren Kollegen empfehlen sie, besorgten Eltern zu erklären, dass die Beschwerden meist innerhalb eines Monats nach der Infektion ohne weiteres Zutun abklingen.
Da die Diagnose eines AIWS im Wesentlichen klinisch gestellt wird, raten die Autoren des Fallberichts zur sorgfältigen Anamnese mit detaillierter Erfassung der Symptome und der Dauer aller Beschwerden. Zudem sollte eine gründliche neurologische Untersuchung erfolgen, um andere Ursachen auszuschließen.
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