Es ist mitten in der Nacht: Notarzteinsatz, Routine, Regen. Ein Moment der Unachtsamkeit, der fast zur Katastrophe führt – und ein Team, das am Abgrund tanzt.
Im Rettungsdienst arbeitet man Hand in Hand. Die meisten Einsätze laufen routiniert, im Team ist man vertraut. Jeder kennt seine Handgriffe und weiß, wie der andere arbeitet. Man kennt Schwächen und Stärken und auch dienstliche Präferenzen. Aber manchmal ist der Teampartner oder man selbst auch übermüdet. Manchmal hat man zwanzig Einsätze mit dem gleichen Meldebild, und man hat Schwierigkeiten, den einzig wirklich kranken Patienten aus dem Low-Code-Unfug herauszufiltern. Es schleichen sich Fehler ein. Manchmal ist eben nichts so wie es scheint.
Eine Julinacht, vor etlichen Jahren, in der es nichts als regnet. Die Rettungsleitstelle hat uns als Rettungswagen zusammen mit unserem Notarzt zu einem fünfzigjährigen Mann geschickt, der unter Schmerzen im Nierenbereich leidet. Vor dem Haus angekommen steht der Mann bereits mit einer gepackten Tasche vor der Tür. Er hat die Schonhaltung eingenommen und hält sich die rechte Flanke. Ich tippe auf Nierenkoliken, die gottlose Schmerzen bis hin zur Betäubungsmittelpflicht verursachen können. Und wieder kommt eine Kolik. Der Mann krümmt sich vor Schmerzen, alle Muskeln im Gesicht angespannt, gebleckte Zähne, das Gesicht weiß wie abgerahmte Milch. Schweiß läuft ihm die Stirn hinunter. Ich steige aus und deute meinem Kollegen Dieter, er könne den Notfallrucksack im Rettungswagen lassen. „Können Sie laufen?“, frage ich den Mann, der nur nickt. Dann nehmen wir ihn unter den Armen und bringen ihn in den Rettungswagen, wo er sich gleich auf die Trage legt und ich ihm einen venösen Zugang lege.
Kurze Zeit später trifft das Fahrzeug mit Notarzt Boris ein, der sogleich zu uns stößt. Die Sachlage ist klar – der Mann braucht ein Medikament, das für diesen Zweck geeignet ist und Schmerzen nehmen kann. Boris entscheidet sich für Novalgin®, legt sein Protokoll auf die Ablage und fängt an zu schreiben. Dieter kümmert sich um das Medikament, ich mich um die Vitalparameter. Dann die klassische Geste: Kollege dreht sich, die Spritze in der ausgestreckten Hand, die Aufziehkanüle noch aufgesteckt, Ampulle bereits abgeworfen. Rettungsdienstliche Praxis, und bei wem das nicht so ist, der stehe auf und werfe den ersten Stein. Boris nimmt die Spritze, zieht die Kanüle ab und setzt die Spritze auf den rosafarbenen Zuspritzport.
„STOPP!“, schreie ich und springe vom Sitz. Boris ist im Begriff, abzudrücken. Ich schlage ihm die Hand von der Spritze, die Spritze löst sich aus dem Port und fliegt in die Ecke.
„Spinnst du? Was ist in dich gefahren?“
„Wo ist die Ampulle?“, frage ich in Dieters Richtung, der seine Augen weit aufgerissen hat.
„Äh … abgeworfen halt.“ Er deutet zum Kanülenabwurfbehälter.
„Ich will die Ampulle sehen.“ Ich sehe ihn an. Dieter nimmt den Abwurf, öffnet ihn und sieht hinein. Dann verliert er an Farbe.
„Oh Scheiße.“
„Was meinst du?“, sage ich.
„Was zur Hölle ist los?“, will Boris wissen, der dem Mann einfach nur helfen wollte. Ich reiße den Schrank auf, aber die Ampulle Novalgin® hängt noch in der Medikamentenhalterung.
„Scheiße. Ich habe versehentlich Novodigal® aufgezogen“, flüstert Dieter.
„Spinnt ihr? Wollt ihr den Patienten umbringen?“, explodiert Boris in Dieters Richtung und knallt seinen Stift in Richtung der Ablage. Dieter steht nur da, als hätte jemand die Pause-Taste an ihm gedrückt. Der Patient reißt seine Augen auf, sieht zuerst Boris an, dann mich. Dann dreht er seinen Kopf zu Dieter.
Novodigal® ist ein Herzglykosid mit sehr geringer therapeutischer Breite. Zu allem Überfluss kann Toxizität auch im therapeutischen Bereich auftreten, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Mittlerweile ist das Medikament aus den Fahrzeugen des Rettungsdienstes verschwunden, damals aber noch nicht. Ich bemerkte den Fehler nur durch einen gewaltigen Zufall – in genau diesem Moment genau hingesehen zu haben – die Novodigal®-Ampulle hatte lediglich einen Milliliter Inhalt, die Novalgin®-Ampulle damals fünf Milliliter. Dementsprechend hatte Dieter eine Zwei-Milliliter-Spritze verwendet. Dieser Fehler hätte den Patienten in den Bereich einer lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörung gebracht.
Eine Katastrophe lässt sich selten nur auf einen einzigen Fehler zurückführen. Das Schweizer-Käse-Modell von James Reason steht stellvertretend dafür, wie Einsätze im Rettungsdienst zum Desaster werden können. Es bebildert eindrucksvoll den Kollaps eines komplexen Systems – zum Beispiel in der Notfallmedizin. Eine Verkettung vieler kleiner Beinahe-Unfälle führt am Ende zu einer Kernschmelze. Das Schweizer-Käse-Modell auf diesen Fall angewendet. Credit: Rettungsdienst-Realtalk
Als Beispiel nehme ich immer wieder gerne die Medikamentengabe: Am Ende steht immer die Gesundheit des Patienten, der vielleicht etwas Falsches in der falschen Dosis verabreicht bekommt. Er nimmt Schaden, und die Rettungsdienstbesatzung macht sich angreifbar und muss vor allem mit der moralischen Schuld leben, nicht aufmerksam gearbeitet zu haben.
Folgendes 6R-Schema hilft dabei, im Notfall unter Zeitdruck und ohne Back-up nichts Wesentliches zu übersehen:
Verabreicht Medikamente nach Möglichkeit im 4-Augen-Prinzip und verwendet eine klare und geschlossene Kommunikation. Es darf nicht heißen:
„Gib mal fünf von der großen Spritze da!“
Sondern es muss heißen:
A: „Gib dem Patienten bitte 0,05 Milligramm Fentanyl, das ist ein Milliliter.“
B: „Ich gebe 0,05 Milligramm bzw. einen Milliliter Fentanyl.“
Spritzen müssen nach Befüllen sofort beschriftet – oder besser – mit einem Aufkleber versehen werden. Tut euch das nicht an, z. B. zur Narkoseeinleitung ein Bündel Spritzen in die Hand zu nehmen und zu meinen, dass ihr die Übersicht habt. Kennt (auch als Nicht-Notfallsanitäter!) den Wirkstoff in Mikrogramm oder Milligramm pro Milliliter. Exakt diese Bezeichnung gehört auf die Ampulle! Wie man es nicht tun sollte. Credit: Rettungsdienst-Realtalk
Algorithmen und Schemata helfen uns, immer in der Spur zu bleiben, auch wenn der Dienst anstrengend, der Geist müde und die Laune im Keller ist. Das mag im ersten Moment nerven, verhindert aber katastrophale Fehler – zum Beispiel Novodigal® anstelle von Novalgin®, ASS mit Beloc® anstatt mit Aqua aufgezogen, 25.000 Einheiten Heparin anstelle von 5.000 Einheiten appliziert, 5 Milligramm Midazolam anstelle 1 Milligramm aufgrund der Ampullengröße, Rocuronium anstelle von Remifentanil (nicht sehr lustig), eine Ampulle Noradrenalin anstelle des Granisetrons (auch alles andere als lustig). Die Liste der Fehlermöglichkeiten ist unendlich – ich habe sie alle live und in Farbe erlebt, und es war verheerend.
Sollte man nicht verwechseln: Rocuronium und Remifentanil (links) oder Granisetron und Noradrenalin. Credit: Rettungsdienst-Realtalk
Der Patient hat am Ende das Novalgin® erhalten. Wir brachten ihn nahezu schmerzfrei in die Klinik. Dieter hat den Rettungsdienst nach diesem Ereignis verlassen. Ich fand das sehr schade, denn aus meiner Sicht war er trotz des Fehlers ein angenehmer und sehr kompetenter Kollege, mit dem das Fahren Spaß gemacht hat.
In der Welt des Rettungsdienstes tanzt man auf einem Drahtseil, das über den Abgrund zwischen Leben und Tod gespannt ist. Jeder Schritt, jede Entscheidung, jedes Handzeichen ist ein Tanzschritt, der mit der Präzision eines Uhrwerks zu jeder Zeit funktionieren muss. Dieser Einsatz war ein Spiegel für das, was unter der glänzenden Oberfläche der Routine verborgen liegt: die Fragilität unserer menschlichen Bemühungen in einer Welt, die uns keinen Fehler verzeiht. Er erinnert uns an das Wesentliche: Aufmerksamkeit ist unser schärfstes Werkzeug, Teamarbeit unser stärkstes Schild. Wir müssen uns gegenseitig überprüfen, hinterfragen, sichern. Nicht aus Misstrauen, sondern aus Verantwortung. Denn letztlich steht hinter allem ein Mensch, dessen Leben und dessen Gesundheit in unseren Händen liegt.
Bildquelle: Jørgen Håland, Unsplash