Laut einer aktuellen Studie ist weltweit inzwischen jeder dritte Mensch übergewichtig, etwa zehn Prozent sogar fettleibig. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Forscher zeigten nun, dass sogar die Beurteilung des sozialen Umfeldes Auswirkungen auf das Gewicht haben kann.
Mit jedem Millimeter, den die Anzeigenadel auf der Waage nach rechts wandert, steigt auch das Risiko auf gewichtsbedingte Begleiterkrankungen. Bereits ab einem BMI von 23, also noch im hohen Normalgewicht, zeigen sich laut der Studie vermehrt Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes, Arthritis und chronische Lebererkrankungen. Die Kosten für das Gesundheitssystem sind enorm und bisher fehlt es an erfolgreichen Kampagnen, um die Epidemie zu stoppen. Kein einziges Land konnte in den letzten dreißig Jahren einen rückläufigen Trend beobachten, kein einziges Land wird wieder dünner. Die Gründe für das globale Problem sind vielschichtig und werden kontrovers diskutiert. Eine gestiegene Kalorienaufnahme bei gleichzeitig abnehmendem Bewegungslevel ist der wohl offensichtlichste Grund, aber auch Veränderungen in der Darmflora scheinen dazu beizutragen. Um die Epidemie in den Griff zu bekommen, muss man sich außerdem das Zusammenspiel zwischen Gewichts-Stigmatisierung und Übergewicht anschauen. Denn obwohl normalgewichtige Personen in manchen Gebieten bereits in der Minderzahl sind, lassen sie die Übergewichtigen häufig ihre negativen Vorurteile spüren – und machen damit alles nur noch schlimmer. Denn wie unsere Eltern, Freunde oder Ärzte über unser Gewicht urteilen, hat weitreichendere Auswirkungen als bisher angenommen. Wissenschaftler um Janet Tomiyama von der Universität of California Los Angeles (UCLA) haben herausgefunden, dass zehnjährige Mädchen, die von ihrem Umfeld als „fett“ bezeichnet wurden, als junge Erwachsene tatsächlich häufiger zu Übergewicht neigten. Allein die verbalen Attacken auf das Körpergewicht erhöhten die Wahrscheinlichkeit, an Adipositas zu erkranken, um 66 Prozent. Damit bestätigt Tomiyama Resultate aus früheren Studien, die bereits einen Zusammenhang zwischen Gewichts-Stigmatisierung und Adipositas aufgezeigt hatten. Bereits 1999 und 2006 wiesen Forscher nach, dass übergewichtige Menschen bei häufiger Stigmatisierung höhere Stresslevel und auch einen höheren BMI aufweisen. Grund dafür ist vermutlich eine allseits bekannte Stressabbaustrategie: das Frustessen.
„Das bedeutet nicht nur, dass schwere Mädchen, die als „fett“ bezeichnet werden, auch Jahre später noch zu viel wiegen. Es heißt vielmehr, dass das Etikett „fett“ die Wahrscheinlichkeit erhöht, an Adipositas zu erkranken“, erklärt Tomiyama. Der Effekt war auch dann noch zu sehen, wenn die Forscher alle anderen Variablen wie das Ausgangsgewicht, das Einkommen, die Ethnizität und den Beginn der Pubertät herausrechneten. „Wir sind fast vom Stuhl gefallen“, erklärt Tomiyama. Die Wissenschaftlerin beklagt, dass die Macht der Gene von vielen schlichtweg nicht akzeptiert werde. Dabei sei der Einfluss unserer Erbanlagen auf unser Gewicht genauso groß wie der auf unsere Körpergröße. „Dünn sein wollen ist wie groß sein wollen“, fasst sie provokant zusammen. Und trotzdem leiden viele Dicke an Diskriminierung. Forscher von der Universität Arizona berichteten im Mai 2014 in einer Studie im American Journal of Public Health davon, dass übergewichtige Teenager von Normalgewichtigen öfter als Freunde zurückgewiesen werden. Die schweren Teens haben durchschnittlich einen Freund weniger als Normalgewichtige. „Das ist besonders besorgniserregend, weil Freundschaften eine wichtige Quelle von Unterstützung und Kameradschaft sind“, sagt David Schaefer, einer der Autoren.
Britische Forscher kommen in einem Übersichtsartikel zu ähnlichen Ergebnissen. Übergewichtige junge Leute beschreiben die Reaktion anderer auf ihr Aussehen als wichtige Ursache für fehlendes Selbstvertrauen, Angst, Einsamkeit und Depression, was zu Frustessen und weiterer Gewichtszunahme führt. „Wenn Leute sich schlecht fühlen, dann neigen sie eher dazu, mehr zu essen, anstatt eine Diät zu beginnen oder joggen zu gehen“, erklärt Tomiyama den Teufelskreis. „Stigma geht unter die Haut“, fasst es Claudia Sikorski zusammen, die an der Universität Leipzig die Nachwuchsgruppe „Stigmatisierung und internalisiertes Stigma bei Adipositas“ leitet. Sie erforscht, welche Folgen die Stigmatisierung und die Diskriminierungserfahrungen auf die Betroffenen haben. „Die Gesellschaft weist den Betroffenen bestimmte Stereotype wie beispielsweise „willensschwach“ zu und das führt dazu, dass die Betroffenen sich auch selbst so beurteilen. Dass Adipositas nicht völlig unter der Kontrolle der Betroffenen steht, hat sich bisher nicht wirklich gut herumgesprochen.“
Besonders gefährlich wird es immer dann, wenn die Stigmatisierung auch in den Arztpraxen und Krankenhäusern deutlich spürbar ist. Denn dann gehen übergewichtige Menschen aus Angst und Scham seltener zum Arzt. Sie verpassen wichtige Vorsorgeuntersuchungen und erhöhen damit das Risiko, dass Krankheiten nicht rechtzeitig entdeckt und behandelt werden. „Diesen Effekt können wir vor allem in der Gynäkologie beobachten“, erklärt Sikorski. Sie hat in einer Studie untersucht, welche Einstellung medizinisches Fachpersonal zu adipösen Patienten hat. Solche Daten gab es bisher für Deutschland nicht. „Wir waren von den Ergebnissen sehr ernüchtert“, berichtet Sikorski, „denn das medizinische Personal hat eine ähnlich negative Einstellung zu übergewichtigen Patienten wie die Allgemeinbevölkerung.“
Ein Grund dafür könnte die fehlende Infrastruktur für die Behandlung adipöser Patienten sein. Passende Waagen, übergroße Blutdruckmanschetten und extra stabile Liegen sind in vielen Kliniken Mangelware. Ärzte und Krankenschwestern bekommen dadurch Probleme bei der Behandlung, und der Ärger darüber richtet sich dann auch gegen den Patienten. Interessanterweise war das Stigma bei Krankenpflegern weniger stark ausgeprägt als bei Ärzten und Therapeuten, obwohl das Pflegepersonal beim täglichen Umgang mit den übergewichtigen Patienten auf viel mehr Hürden und Hindernisse stößt. Es scheint, als ob der tägliche Umgang mit Adipösen die Vorurteile abbaut. Das wird in Zukunft immer wichtiger werden. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts waren im Zeitraum 2008 bis 2011 bereits 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen in Deutschland übergewichtig. Die Adipositasraten lagen jeweils bei 24 und 23 Prozent. Tendenz steigend. Mit Aufklärungsarbeit will Claudia Sikorski für ein differenzierteres Bild von Adipositas werben, und Empathie und Verständnis fördern. Sie bringt Medizinstudenten mit Adipositas-Patienten zusammen und hofft, dass dadurch Vorurteile abgebaut werden. Freiwillige dafür zu finden war nicht schwer. „Ich denke, das spricht auch für den Leidensdruck, den die Betroffenen verspüren“, sagt Sikorski.
Doch wie unterstützt man Übergewichtige am besten beim Abnehmen, wenn Druck und Diskriminierung nur kontraproduktiv wirken? Kanadische Forscher berichteten Anfang Mai auf einer Tagung davon, dass bei Familien mit übergewichtigen jungen Kindern vor allem motivierende Interviewtechniken zum Erfolg führten. Die Kinder, bei deren Familien diese Art der Gesprächsführung angewendet wurde, waren beim Abnehmen erfolgreicher als eine Vergleichsgruppe. Ihr BMI-Perzentile sank durchschnittlich um 3,1 Punkte mehr. Um die Techniken der motivierenden Gesprächsführung in Arztpraxen zu verbreiten, hat die Amerikanische Gesellschaft für Kinderheilkunde die App „Change Talk“ entwickelt, die kostenlos heruntergeladen werden kann. Ärzte erfahren darin alles über die verschiedenen Gesprächstechniken und können sie auch gleich in einer virtuellen Praxisumgebung selbst ausprobieren.