„Ich bin doch gar nicht qualifiziert genug!“ Viele Mediziner kennen dieses Gefühl – auch nach über 10 Jahren Ausbildung. Woher es kommt und was man dagegen tun kann.
Beim Impostor-Syndrom oder „Hochstapler-Phänomen“ handelt es sich um ein psychologisches Muster, bei dem betroffene Personen ihre Errungenschaften anzweifeln und Angst haben, als „Betrüger“ entlarvt zu werden. Trotz externer Beweise ihrer Kompetenz bleiben sie davon überzeugt, dass erzielte Erfolge unverdient und nicht auf persönliches Engagement, Fachkompetenz oder die eigenen Fähigkeiten zurückzuführen sind. Dass sie von Außenstehenden als intelligenter und kompetenter empfunden werden, als sie sich selbst wahrnehmen, wird eher Glück, zwischenmenschlichen Beziehungen oder Täuschung zugeschrieben.
In medizinischen Kreisen ist dieses Phänomen professioneller Selbstzweifel weit verbreitet. Denn Erwartungen an Ärzte sind hoch: von Arbeitgebern und Patienten wird oft wie selbstverständlich angenommen, dass Behandler über ihre eigenen Grenzen gehen, der Arbeit oberste Priorität einräumen und für jede Situation eine Lösung parat haben. Hinzu kommen der dauerhafte Zeit- sowie finanzieller Druck, die ständige Konfrontation mit existenziellen Themen und die Notwendigkeit, auf dem neuesten Stand des medizinischen Fortschritts zu bleiben.
Darüber hinaus spielen bei der Entstehung eines Impostor-Syndroms auch persönliche Merkmale wie Perfektionismus oder eine hohe Leistungsbereitschaft eine Rolle. Hier wirken unter anderem die eigene Erziehung und der familiäre Hintergrund mit. Prädisponierend sind ebenfalls ein niedriges Selbstwertgefühl und das Persönlichkeitsmerkmal Introversion.
Das Impostor-Syndrom kann sich bei Medizinern auf unterschiedliche Weise äußern: Manche Betroffene erlegen sich aus Perfektionismus unerreichbar hohe Ziele auf, andere halten es für eine Schwäche, um Unterstützung zu bitten. Teils führt ein ständiger Vergleich der eigenen Fachkenntnis mit der von Kollegen, die als kompetenter wahrgenommen werden, zu einem Unzulänglichkeitsgefühl. Wieder andere haben große Angst, Fehler zu machen oder überladen sich selbst mit Arbeit, um sich wertgeschätzt zu fühlen.
Psychologische Studien aus der Zeit der Erstbeschreibung des Phänomens schätzen, dass zwei von fünf erfolgreichen Menschen sich selbst als Hochstapler einstufen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich beispielsweise, dass Medizinstudenten anfällig für das Hochstapler-Syndrom zu sein scheinen: In verschiedenen Studien wurde die Prävalenz des Phänomens auf bis zu 50 % geschätzt.
Über das Vorkommen in der klinischen Praxis gibt es bislang nur begrenzte Informationen. Man weiß aber, dass negative berufliche Erfahrungen wie ungünstige Ergebnisse für Patienten und Beschwerden oder schlechte Bewertungen die Prävalenz erhöhen können. In einer amerikanischen Studie über das Impostor-Syndrom bei Ärzten mit über 3.000 Teilnehmern zeigten Not- und Kinderärzte die meisten Symptome, wohingegen Orthopäden, Radiologen und Augenärzte am seltensten betroffen waren.
Generell tritt das Hochstapler-Phänomen bei beiden Geschlechtern auf – jedoch scheinen Frauen etwas häufiger betroffen zu sein. Mit zunehmendem Alter nimmt die Prävalenz ab. Unter bestimmten Umständen können sich allerdings 70 % aller Menschen vorübergehend als Hochstapler fühlen. Wechseln z. B. die Aufgabenbereiche häufig, entsteht das Gefühl, ein „ständiger Anfänger“ zu sein. Das begünstigt wiederum das Impostor-Phänomen.
Auch wenn es sich beim Impostor-Syndrom selbst um keine eigene Diagnose oder psychische Störung handelt, sind gesundheitliche Folgen möglich. So haben Studien gezeigt, dass das Hochstapler-Phänomen zu einem Rückgang der Arbeitszufriedenheit und Leistung führen und zugleich das Risiko für einen Burnout erhöhen kann. Darüber hinaus gilt es als möglicher Auslöser von Angststörungen und Depressionen.
Zunächst einmal ist es für Betroffene wichtig, sich die Existenz dieses Phänomens bewusst machen. Das kann dabei helfen, eigene Gedanken zu hinterfragen und sich mehr auf die bereits erzielten Erfolge zu konzentrieren. Sie sollten sich zudem vor Augen führen, dass es normal ist, gelegentlich Hilfe zu benötigen oder Fehler zu machen. Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, das Gespräch mit vertrauten Kollegen oder Freunden zu suchen, die persönliche Leistungen realistischer einschätzen können. Zudem kann es erleichternd sein, von bislang verborgenen Selbstzweifeln anderer zu erfahren.
Bestehen indes ein hoher Leidensdruck oder psychische Folgeerkrankungen, ist es ratsam, eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Da neben persönlichen Merkmalen auch die Umgebung zum Auftreten des Impostor-Syndroms beiträgt, erscheint vor diesem Hintergrund die Forderung nach einer Änderung unserer leistungsorientierten und perfektionistischen Medizinkultur abermals angemessen.
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