Mitternacht vor einem Plattenbau in Marzahn: Der Mann, der aus dem 8. Stock gefallen ist, verstirbt – nach rund 30 Minuten Reanimation. Noch so einen Fall halte ich nicht aus. Wie ich es schaffe, damit umzugehen.
„Ich sehe tote Menschen“ geht es mir durch den Kopf, wenn ich mit dem Fahrrad durch Berlin fahre. Ich fühle, wie sich meine Nackenhaare aufstellen. Es geht mir genauso wie dem Jungen im Film „The Sixth Sense“ mit Bruce Willis.
Hier, hinter den Bäumen hinter dem Plattenbau in Marzahn haben wir unter Handylicht nachts um eins einen jungen Mann reanimiert, der aus dem 8. Stock gefallen war. Als ich dazu kam, war die Reanimation schon im Gange. Erste Frage: „Wann waren letzte Lebenszeichen? Wie lange seid ihr dabei?“
Keine Lebenszeichen, 18 Minuten sind seit Beginn der Reanimation vergangen. Ok. Ich hole das Skalpell und die sterilen Handschuhe heraus und mache eine ultima ratio Minithorakotomie beidseits. Kein Zischen. Ok. Team Time Out: Medizinisch ist es nicht sinnvoll, die Reanimation weiterzuführen. Hat jemand Einwände gegen die Einstellung der Reanimation? Nein? Dann Stopp, Notierung Todeszeitpunkt, alles Weitere folgt.
Ich steige wieder in mein Oberarzt-vom-Dienst-Auto der Berliner Feuerwehr und fahre nach Hause. Nachdem ich geparkt habe, hole ich mein Handy raus, aktiviere die Kardia-App und atme geführt für zwei Minuten, um meinen Puls auf 120 Schläge pro Minute runterzukriegen. Die Hände zittern, die Gedanken kreisen – hoffentlich kein weiterer Alarm mehr heute Nacht.
Ich sehe so viele tote Menschen, wenn ich durch Berlin fahre.
Hier der Mann im Tiergarten mit den Schussverletzungen in Hals und Brust. Im Prinzip das Gleiche: Frage Lebenszeichen, Team Time Out, dann Minithorakotomie und Schluss. Wenn ich auf der Leipziger Straße unterwegs bin, habe ich immer das Bild von dem 18-Jährigen mit dieser kleinen Stichverletzung thorakal vor Augen. 30 Minuten. Keine Lebenszeichen? Wir machen Schluss …
Manchmal komme ich in Gegenden von Berlin an Stellen, an denen ich noch nie zuvor war – dann kommt plötzlich ein Flashback: ja, da, die eine Nacht, die Bilder kommen wieder; egal was – ich hab’s gesehen und behandelt. Von der Neugeborenen-Reanimation in der 25. Woche über die prähospitale Clamshell bis zum Morphinperfusor für die röchelnde 90-jährige COVID-Patientin in der Residenz Abendsonne. Das macht was mit einem.
Es ist jetzt fast drei Jahre her, dass diese Dinge passiert sind.
Ich war von November 2019 bis Dezember 2021 als Oberarzt der Berliner Feuerwehr angestellt und habe in dieser Funktion als operativer Vertreter des Ärztlichen Leiters und als Leitender Notarzt viele Alarme zu teils extremen Einsätzen durchgeführt.
Seit dem Ende meiner Tätigkeit habe ich kein NEF mehr betreten. Stattdessen mache ich Psychotherapie, Yoga, Meditation und habe mein Leben auf vielen Ebenen verändert, Scheidung inklusive.
Ich sehe tote Menschen, trotz allem. Jedes Mal, wenn ich durch Berlin fahre.
Ein sehr stimmiger – und cooler Hashtag dazu ist: #ittakesasystemtosavealife. Das passt so gut, weil man ohne ein System das alles nicht machen kann, ohne kaputt zu gehen.
Ein System gab es in meiner ehemaligen Abteilung Anfang der 2020er in jedem Fall: Wir wollten alles machen, alles ausprobieren und alles auf die Straße bringen, was grade en vogue war in der prähospitalen Medizin. Wir wollten die Besten und die Tollsten sein und hatten das Gefühl in einem Start-up zu arbeiten. Wir wollten alle Ressourcen nutzen und einen zweiten Notarzt prähospital zum Notfallort bringen, um junge Notärzte zu unterstützen. Wir haben Beta-Versionen ins System eingespeist. Trial and Error.
Was leider nicht Teil unserer Agenda war: der reguläre psychosoziale Support für meine Kollegen und mich, die alles breitwillig mitmachten, weil es extrem cool war. Mich hat’s zerrissen.
Ich glaube inzwischen: Exzellenz erreicht man nicht dadurch, dass man Verfahren wie Thorakotomien oder REBOA nur durchführt – es ist vor allem die Governance und der Aufbau eines breiten Systems, das zu Exzellenz führt. Einzelne Experten können nicht alleine und ohne Team und Nachsorge die Patientenversorgung in der Breite verbessern. Bevor neue Techniken eingeführt werden, müssen sie im Team trainiert werden und jeder Einsatz muss in einer Supervision nachbereitet werden. Der psychische Stress ist enorm, wenn man permanent extremen Verletzungsmustern und Krankheitsbildern ausgesetzt ist. Ohne einen Raum, in dem die Emotionen, die der Einsatz hervorruft, Platz haben, findet keine Verarbeitung statt – das fördert Burnout. Ein weiterer wahrer Hashtag dazu wäre: #ittakesasystemtochangealife.
Wer mir damals akut geholfen hatte, war ein Kollege der Einsatznachsorge der Feuerwehr, den ich auf eigene Initiative nach einer Clamshell aufgesucht hatte und der sich Zeit für mich und ein Gespräch genommen hatte. Es war ein tolles, entlastendes Gespräch. Er vermittelte mich auch an eine Psychologin vom Arbeitsmedizinischen Dienst. Mit der hatte ich mehrere Telefonate, bei denen sie mir gute Vorschläge gab: „Sie müssen ihr Umfeld umsozialisieren und Ihre Grenzen klar machen.“ Ich habe mit ihr auch Gespräche simuliert für die nächste Dienstplanverhandlung, von ihr erhielt ich auch die Empfehlung für die Kardia-App zur Atemregulation. Am Schluss war es der Personalrat, der mich bei meiner Kündigung begleitet hat.
Seitdem mache ich nur noch patientenferne Arbeit.
… bis vor kurzem …
Vor ein paar Wochen war ich mit meinem besten Freund in der Sächsischen Schweiz, dem Elbsandsteingebirge, boofen (Übernachten im Freien). Die Natur dort ist wunderschön, man hat einen weiten Blick über herrliche Buchenwälder und fantastische Felsformationen. Unglücklicherweise stürzte mein Freund nachts ca. 15 Meter tief in eine Schlucht. Immerhin konnte er sich selbst befreien, um den Fels herum wieder heraufsteigen und mich wecken. Das alte Wissen kickte ein.
Ich alarmierte die 112 mit der Bergrettung und begann die Polytraumaversorgung bei Pneumothorax mit Rippenserienfraktur, zusammen mit den Rettungskräften des RTW, bis der Hubschrauber eintraf. Dann ging es für den Patienten mit der Winch in die Lüfte und in den Schockraum nach Dresden. Es lief gut (medizinisch gesehen von meiner Seite). Ich war handlungsfähig. Und dankbar über meine Kenntnisse und Fähigkeiten.
Vorbereitung für die Winch. Credit: DasFOAM
Das Beste aber war, dass ich inzwischen gelernt habe, meine Emotionen zuzulassen und zu fühlen und trotzdem zu handeln. Als der Helikopter weg war, habe ich angefangen zu weinen. Vor Angst um meinen Freund und vor Freude, ihn retten zu können.
Tote Menschen sehe ich noch immer. Der Unterschied zu früher ist, dass ich jetzt innehalte und die Gefühle zulasse.
Disclaimer: Alle Ereignisse, die in diesem Artikel geschildert werden, sind nicht wie dargestellt passiert und Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Toten sind rein zufällig.
Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM.
Dieser Text erschien zuerst hier: #dasFOAM – I see dead people
Bildquelle: Atanas Dzhingarov, Unsplash