Der Praktikant ist gelangweilt: Schon wieder ein Patient mit Schnupfen. Ist halt Infektsaison. Wie erkläre ich ihm, dass Wachsamkeit trotzdem wichtig ist?
Vor kurzem hatte ich einen Schülerpraktikanten aus der 11. Klasse zu Besuch, der überlegt, Medizin zu studieren. Das war für mich mal eine andere Erfahrung – meistens haben wir ja Studenten, die zumindest schon grob die Terminologie kennen. Ich war selbst überrascht, wie oft ich mich ihm gegenüber beim Erklären von Befunden dabei ertappt habe, Fachbegriffe zu benutzen, die er nicht kannte.
Da zeigte sich wieder, dass Fachbegriffe oft schlichtweg praktischer sind. „Blutvergiftung“ ist im Volksmund sowohl die meist schnell ambulant antibiotisch zu behandelnde Lymphangitis nach einer Wunde als auch die potenziell sehr schnell tödliche Sepsis. Da ist es schon besser, wenn man sich im Rahmen des fachlichen Austausches eindeutig und rasch verständigen kann.
Was für mich aber deutlich schwieriger zu vermitteln war als die Begrifflichkeiten, war der Wert von Routine. Es ist halt gerade Infektsaison – das heißt, dass sich in der Akutsprechstunde gaaanz viele Leute mit Erkältungen vorstellen, die letztlich nach demselben Schema ablaufen:
In den allermeisten Fällen also: Routine. Nur ganz selten ergibt sich der Verdacht auf eine weiterführende Krankheit – aber das kann auch Leben retten: Eine meiner Weiterbildungsassistentinnen hatte vor zwei Jahren in der Infektsaison kein gutes Gefühl bei einem Patienten. Sie meinte, etwas gehört zu haben, obwohl er gar nicht sooo krank wirkte. Letztlich war die Diagnose ein primäres Bronchialkarzinom, welches damit sehr früh erkannt und kurativ operiert werden konnte!
Oft hat man allerdings nicht viel Zeit, um in Ruhe alles durchzugehen – es soll ja meistens nur ein kurzer Kontakt sein, weil das Wartezimmer schon voll sitzt. Da bin ich ein riesiger Fan von Routine(n):
Letztlich spart es Energie, wenn man immer das gleiche Programm abspulen kann. Gleichzeitig muss man aber sofort aufmerken, wenn etwas nicht in das Standard-Schema passt, wie z. B. beim Abhören im obigen Beispiel. Damit dieser Autopilot funktioniert, muss man viele Standard-Patienten untersucht haben. Das trainiert die Erkennung von Problemen. Im heutigen „KI-Sprech“ kann man es so übersetzen: Ich brauche Datensätze, mit denen die MI (menschliche Intelligenz) trainiert wird und lernt. Und die Qualität, mit denen ich diese Datensätze erhebe, bestimmt, wie gut danach mein „Infekt-Algorithmus“ funktioniert.
Ich hatte meinem Schülerpraktikanten vorgeschlagen, dass er – um nicht nur danebenzusitzen – auch mit abhören oder abtasten kann. Denn mehrere Stunden nur zuhören ist schnell langweilig. Womit ich jedoch nicht gerechnet habe war, dass er nach 2–3 Tagen nur noch allenfalls halbherzig bei der Sache war. Ich musste ihn eher auffordern, mitzumachen. Ich habe daher versucht, ihm in Gesprächen nach der Sprechstunde klarzumachen, dass diese Routinen wichtig sind, um schnell und – auch unter suboptimalen Bedingungen wie zum Beispiel bei eigener Müdigkeit – angemessen entscheiden zu können.
So richtig Erfolg hatte ich mit meiner Argumentation glaube ich nicht. Sein Argument war: „Na ja, das hatte ich ja schon mehrfach gehört, das reicht ja dann“. Aber stimmt das?
Routine gilt (heutzutage?) als extrem unsexy. Wobei ich gar nicht genau weiß, ob das wirklich ein modernes Phänomen ist – wahrscheinlich ist das auch eine Sache des Lebensalters und der eigenen Einstellung: In der Jugend möchte man viele neue Erfahrungen sammeln – im Alter lernt man dann diese Erfahrungen schätzen und manchen fällt es schwerer, sich mit neuen Erfahrungen anzufreunden. Wobei beides nicht zu stark pauschalisiert werden kann. Ich hab junge Mitarbeiter, die sich mit Neuem schwertun und ältere, die Veränderungen aufsaugen und sofort umsetzen. Es gibt Tendenzen in den verschiedenen Altersgruppen, aber mehr wahrscheinlich auch nicht.
Denn das krasse Gegenbeispiel zu meinem Schülerpraktikanten sind aktuell zwei meiner MFA bzw. VERAH (Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis). Wir probieren gerade die sogenannte Teamgestützte Infektsprechstunde aus, bei der eine MFA eine Voruntersuchung durchführt und ich danach nur kurz hereinkomme, um Fragen zu klären. Aktuell höre ich die Patienten immer noch kurz ab, aber ich muss sagen, dass die Trefferquote meiner VERAH bei auffälligen Befunden echt sehr gut ist.
Das beschleunigt die Sprechstunde massiv und meinen VERAH macht es extrem viel Spaß. Sie kennen einerseits die Routine, lernen aber gleichzeitig etwas Neues, da sie nicht nur die Befunde mitschreiben, sondern auch aktiv etwas tun können. Damit kann ich die Infektsprechstunde beschleunigen – auch die Patienten sind davon sehr angetan – werde selbst entlastet und die MFA, die durch ihre Berufserfahrung oft einen sehr guten klinischen Blick haben, können ihre Routine jetzt um die Untersuchung ergänzen. Win-Win-Win-Situation.
Das wäre sicherlich mit meinem Schülerpraktikanten aufgrund des mangelnden Vorwissens so nicht möglich gewesen, aber mal schauen – vielleicht finde ich ja eine Möglichkeit, etwas Ähnliches auch dort umzusetzen.
Zum Abschluss noch ein schönes Zitat dazu:
„Um in großen Dingen Exzellenz zu erreichen, muss man Gewohnheiten in den vielen kleinen Dingen entwickeln. Exzellenz ist deshalb keine Ausnahme, es ist eine vorherrschende innere Haltung.“ – Colin Powell
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