Medizin im Kino lernen? Im M23-Kino in München wird der Traum so mancher Studenten wahr. Da wird im Hörsaal über Amputationen, Suchterkrankungen, Depressionen und weitere medizinische Themen diskutiert und ganz nebenbei der neueste Blockbuster geschaut.
Eigentlich fehlt nur noch das Popcorn, ansonsten erinnert der provisorische Kinosaal kaum noch an den Hörsaal der Chirurgischen Klinik in München. Die Fenster sind mit schwarzen Vorhängen abgedunkelt, eine große Leinwand hängt dort, wo normalerweise Professoren in Vorlesungen an die Tafel kritzeln. Der Beamer rattert leise und wirft ein grelles Licht auf die Wand. Studenten machen es sich auf den Bänken bequem, einige haben sogar an ein Sitzkissen für die 350 doch recht harten Klappstühle gedacht. Zugegeben, die haben zwar wenig von einem richtigen Kinosessel, dagegen vermittelt das ständige Aufstehen, um jemanden durchzulassen und das leise Getuschel vor Filmanfang Kinogefühl pur. Drei- bis viermal im Semester heißt es im Chirurgie-Hörsaal: „Film ab!“, wenn Kinofilme zu Lehrzwecken gezeigt werden. Denn das Filmevent in München ist kein gewöhnliches Hörsaalkino. Das sogenannte M23-Kino wird speziell für Medizinstudenten ausgerichtet und macht es sich zum Ziel, anspruchsvolle und moderne Kinofilme als Unterrichtsmedium einzusetzen. Eine halbstündige Diskussion im Anschluss an den Film, die von Experten und Betroffenen des jeweiligen Fachgebiets begleitet wird, ist dabei das I-Tüpfelchen der Lehrveranstaltung.
Die Idee, Medizin und Film zu verbinden, hatte der Münchner Chirurg Prof. Dr. Matthias Siebeck vor acht Jahren. In einem kleinen Kino etwas außerhalb von München lud er damals Medizinstudenten und Experten nach der Vorstellung zu einer Diskussion ein. Seit 2008 findet das M23-Kino, das früher unter dem Titel „Movies and Medicine“ lief, nun als fakultatives Lehrangebot an der Ludwig-Maximilian-Universität jedes Semester statt. Im Organisationsteam finden sich neben Prof. Siebeck derzeit auch die drei Medizinstudenten Sophie Neuner, Caspar Gruber und Mike Rüb. Sie waren im dritten Semester selbst Zuschauer und fanden das Format so spannend, dass sie sich spontan dazu entschlossen, daran mitzuwirken. „Heute gehört zu unseren Aufgaben die Filmauswahl, das Einholen der Filmrechte, das Suchen von Experten und Betroffenen sowie Werbung für den Film zu machen“, erzählt uns Mike. Bei der Auswahl der Filmthemen lassen sie sich von Inhalten inspirieren, die im Medizinstudium oft zu kurz kommen. Dabei ist es ihnen auch wichtig, dass die Themen möglichst breit gestreut sind. Von Amputation und Pädophilie über Hausarztmangel bis hin zu den Themen Depression, Sterbehilfe oder Tourette-Syndrom ist alles dabei. Und das gefällt den Besuchern.
„Das Feedback der Studenten ist laut unseren Evaluationen durchweg sehr positiv“, berichtet Mike. „Das M23-Kino bietet eine Plattform, in der sich Experten, Betroffene und Medizinstudenten über spannende, oftmals nicht im Lehrbuch behandelte Themen auf Augenhöhe austauschen können. Die Kombination, zuerst in entspannter Atmosphäre am Abend gemeinsam einen Film anzuschauen und sich dann mit anderen darüber zu unterhalten, macht das M23-Kino einzigartig.“ Der Clou dabei: es werden aktuelle, moderne Kinofilme gezeigt und keine alten, langweiligen Schwarz-Weiß-Lehrvideos. So lernt man nicht nur etwas, sondern kann ganz nebenbei umsonst den neuesten Blockbuster anschauen. Nicht nur bekannte Streifen wie „Ziemlich beste Freunde“, „Million Dollar Baby“, „Vincent will Meer“ oder „Juno“, sondern auch kleine alternative Filme, die ein medizinisches Thema intensiv und genau beleuchten, werden gezeigt. Neben aktuellen Werken werden zudem aber auch ältere Filme gezeigt, bei der Auswahl achtet das M23-Team vor allem auf die Qualität und Verständlichkeit des Themas. M23-Kino, © Bild: Matthias Siebeck
Auf diese Art bekommt man einen ganz anderen Zugang zu einer Erkrankung oder einem speziellen Fachgebiet. Dinge, die man emotional aufnimmt und mit einem guten Gefühl gelernt hat, behält man besser. Und das Publikum wird zum Nachdenken angeregt, teilweise über sehr unkonventionelle Themen. Für sich selbst kann Mike das nur bestätigen. Persönliches Highlight war für ihn der Film „I am a woman now“, der anschaulich das Thema Transsexualität behandelt. Er wurde im letzten Semester gezeigt und rief eine der spannendsten Diskussionen im Anschluss hervor. „Wir hatten einen Chirurgen und drei Betroffene eingeladen, die sehr lebhaft und emotional über ihr Leben erzählt haben. Anschließend blieben viele Studenten länger und haben noch in persönlichen Gesprächen Fragen gestellt. Der Kinoabend war sehr persönlich - das hat mir gefallen.“ Die Arbeit beim M23-Kino bringt Mike aber auch für seine spätere Ärztekarriere etwas. „Die Arbeit sensibilisiert mich für Themen, die sonst im Studium zu kurz kommen, mit denen man aber dennoch später in der Klinik oder Praxis in Kontakt kommt“, betont er. Deshalb versucht das Team rund um Mike nun auch, das M23-Kino semesterübergreifend bei allen Medizinstudenten in München bekannter zu machen. Außerdem wollen sie das Kino interdisziplinärer gestalten und demnächst auch Pflegeschüler und Physiotherapieschüler zu den studentischen Kinoabenden einladen. Das Motto des Kinos ist Programm: Weil Lernen nicht nur aus Pauken besteht.
Die Idee des Hörsaalkinos gibt es schon lange. Auch in anderen Städten sind solche Filmabende durchaus üblich. In Leipzig beispielsweise gibt es die LernKlinik MediCINEMA. Auch hier werden ab und zu Filme mit medizinischem Inhalt gezeigt und anschließend mit Experten diskutiert. Themen waren hier beispielsweise schon die Kinderpalliativmedizin mit dem dazu passenden Film „Seelenvögel“ oder das Tourette-Syndrom, das anhand des Filmes „Vincent will Meer“ erarbeitet wurde. Die anschließenden Diskussionen wurden dann durch Vertreter des Kinderhospizes „Bärenherz“ in Leipzig bzw. den Gründer der Selbsthilfegruppe Tourette Leipzig geleitet. Auch in Jena werden für Studenten aller Fachrichtungen aktuelle Filme und alte Klassiker im Hörsaal gezeigt. In Göttingen wird das „Kino im Klinikum“ angeboten, bei dem dieses Sommersemester u. a. „Ziemlich beste Freunde“ oder „Jung und schön“ gezeigt werden. Und die Medizin-Fachschaft in Münster lädt des Öfteren zum 3D-Hörsaal Kino in weihnachtlicher Atmosphäre ein. Der Reiz des Hörsaalkinos liegt mit Sicherheit auch darin, die Filme in einem Raum anzusehen, in dem tagsüber Vorlesungen gehalten werden. Einmal an dem Ort entspannt in den Sitzreihen zu kauern und ein Bierchen zu trinken, an dem sonst konzentriert zugehört und fleißig mitgeschrieben wird und Prüfungen abgehalten werden, das hat schon etwas Verlockendes. Das Quietschen der Kreide an der Tafel wird durch das leise Rattern des Beamers abgelöst und kein Professor ist anwesend, um zur Ruhe zu ermahnen. Der ganze Saal ist voll mit Kommilitonen; niemand stört sich sehr, wenn man hier mal etwas lauter ist oder Witze reißt. Und wenn man dann noch nebenbei etwas über wichtige medizinische Themen lernt, ist der Abend schon gelungen.
Der entspannte Kinoabend in der Uni hat sich vielerorts durchgesetzt. „Durch den lockeren Umgang mit bestimmten Themen beschäftigt man sich durchaus sehr intensiv damit. Die emotionale Verknüpfung mit dem Film sorgt dafür, dass vieles besser hängen bleibt“, erzählt uns Julia Albert, Medizinstudentin im sechsten Semester an der LMU und regelmäßige Besucherin des M23-Kinos in München. „Besonders gut gefällt mir, dass man Wahrheit und Wunschdenken differenzieren lernt und erkennt, dass manche Dinge in Filmen viel dramatischer dargestellt werden als sie es in Wirklichkeit sind.“ Die anschließende Diskussion mit Experten und Betroffenen findet Julia am Besten. „Dadurch schaut man sich nicht nur einen Film an, das könnte man ja auch daheim machen, sondern man bekommt durch die Expertendiskussion interessante Einblicke und lernt andere Perspektiven und Erfahrungen kennen, die man bestimmt nicht so schnell vergisst. Ich erinnere mich noch genau an den Abend, an dem wir „Der Geschmack von Rost und Knochen“ angeschaut haben und ein beinamputierter Mann mit einer Prothese uns sehr anschaulich seine Geschichte erzählt hat. So ein tiefer Einblick in das Leben eines Betroffenen berührt und lässt eine faszinierende und emotionale Diskussion entstehen. Es ist eine super Abwechslung zum normalen Lernen am Schreibtisch, weil man endlich einmal das Gefühl hat fürs Leben zu lernen und nicht nur auf die nächste Klausur.“ Ein paar kleine Wermutstropfen findet Julia aber doch: „Es werden leider keine Snacks verkauft. Mit Popcorn wäre das Hörsaalkino sicher noch authentischer. Und die Diskussion könnte ruhig länger als eine halbe Stunde gehen.“ Am 03. Juni heißt es übrigens mit dem oscarprämierten Film „In einer besseren Welt“ wieder „Film ab“ im M23-Kino.