Ich erinnere mich noch genau an die alte Dame, deren Herzinfarkt ich trotz EKG übersehen habe. Wie ich solche Fehler zu Chancen gemacht habe – und wie lange ich dafür brauchte.
Kurz nach Bestehen meines Staatsexamens zum Rettungsassistenten fühlte ich mich in manchen Momenten wie ein Held, wenn ich eine knifflige Situation scheinbar reibungslos meistern konnte. Doch immer blieb die Frage im Hinterkopf, wie viel davon Können und Wissen war und wie viel schlichtweg Glück. Tatsächlich machte ich Fehler. Ein paar waren so massiv, dass ich rückblickend nur dankbar sein kann, dass ich dadurch keinen Patienten ernsthaft gefährdet hatte.
Besonders eindrücklich erinnere ich mich an jene ältere Dame, die wir im Rahmen eines Krankentransportes in die Klinik bringen sollten, eingewiesen durch den Hausarzt. Brustschmerzen, nicht bewegungsabhängig. Ich schrieb das EKG, ohne jedoch mit dem ausgespuckten Ergebnis etwas anfangen zu können, gleich einer Übersprungshandlung. Irgendwie dachte ich, wenn der Hausarzt die Patientin als Krankentransport einwies, wird sie schon nichts Schlimmes haben. Dann nahm ich den rosafarbenen Streifen Papier in die Hand und die Dame unter den Arm, und ab in die Klinik, um mir vom Aufnahmearzt den Generalanschiss meines Lebens abzuholen. Ich hatte einen Herzinfarkt übersehen.
Doch anstatt mich von solchen Erlebnissen entmutigen zu lassen, begann ich intensiv nachzuarbeiten. Meine Freizeit verbrachte ich mit meiner Nase in Fachliteratur, auf Fortbildungen, beim praktischen Üben und in der Anästhesie. Denn es reicht eben nicht, in der Praxis lediglich „mitzulaufen“. Wer ernsthaft besser werden will, muss aktiv den eigenen Wissensstand reflektieren und immer wieder ergänzen.
In den folgenden Jahren tat sich viel im Rettungswesen. 2014 brachte die Regierung dann endlich den Notfallsanitäter auf den Plan. Immerhin hatte es viele Anläufe gegeben, den Beruf und das Berufsbild zu reformieren. Doch diesmal ging es voran, und die Reform war tiefgreifend. Neben der umfassenden medizinischen Ausbildung betonte das Notfallsanitätergesetz mit Einführung des § 2a NotSanG besonders die eigenverantwortliche Heilkunde am Patienten im Notfall. Dazu haben wir den Luxus, uns jederzeit notärztliche Hilfe an die Einsatzstelle dazu holen zu können und so die beste Strategie für den Notfallpatienten und die beste Effizienz für das System haben zu können.
Dass der Notfallsanitäter kein „Rettungsassistent 2.0“ ist, wusste ich bereits, als ich im November 2016 mit Schweißflecken unter den Achseln zwischen dem abgeranzten Tisch und dem überdimensionalen Limo-Automaten auf meine Ergänzungsprüfung wartete und trotz sommerlicher Temperaturen gleichzeitig fror und schwitzte. Dann war es so weit. „Herr Strzoda bitte“, rief mich einer der Prüfer zu sich. Ich lief an zwei Prüflingen vorbei, die es vergeigt hatten. 60 Prozent Durchfallquote standen dafür, dass viele nicht wussten, was die Tätigkeit als Notfallsanitäter wirklich bedeutet. Dann saß ich in einem stickigen kleinen Zimmer vor den drei Prüfern, die mich 45 Minuten lang auspressten, wie eine Tube Zahnpasta. Im Anschluss zitierten sie mich in den Besprechungsraum. Mein Grinsen hing wie eine schlecht gemalte Maske, als ich nur „bestanden“, „Notfallsanitäter“ und „herzlichen Glückwunsch“ hörte. Dann war es so weit: Christian Strzoda war ab diesem Zeitpunkt Notfallsanitäter. Allerdings musste ich als Notfallsanitäter besser sein, als ich es als Rettungsassistent war.
Es sind inzwischen insgesamt dreißig Jahre nach meinem Start im Rettungsdienst vergangen, und der Alltag hat mich geprägt. Ich habe tausende Einsätze erlebt – von vermeintlich banalen Krankentransporten bis hin zu lebensbedrohlichen Notfällen, bei denen jede Sekunde zählte. Mit jedem Patienten und jeder neuen Herausforderung habe ich mehr gelernt, als es mir je eine Ausbildung hätte beibringen können. Irgendwann wurden die Überraschungen im Arbeitsalltag weniger. Ich fühlte mich routinierter und sicherer und behaupte, mich jetzt gerade im Jahr 2025 auf meinem fachlichen Zenit zu befinden. Aber wieso? Ab wann wird man besser im Job und wie kann man das fördern? Reicht Übung, oder benötigt man auch Talent, um zu den High-Performern gehören zu können? Und was genau bedeuten die Begriffe erlernen und beherrschen?
Im Kontext des § 2a NotSanG wird der Begriff „beherrschen“ als die Fähigkeit definiert, eine Maßnahme sicher, kompetent und in Übereinstimmung mit den erlernten Standards eigenverantwortlich durchzuführen. Dies setzt voraus, dass die Maßnahme in der Ausbildung (zu denen meiner Interpretation nach auch die Fort- oder Weiterbildung zählt) erlernt wurde und der Notfallsanitäter sie sowohl kennt, versteht, fachgerecht nutzen und im Notfall unter massivem Druck der Situation sicher anwenden kann. Das ist schön und gut, aber die sogenannte 10.000-Stunden-Regel besagt, dass man erst durch 10.000 Stunden gezielter Übung in einem Bereich zum Experten werden kann. Diese Theorie geht auf den Psychologen Anders Ericsson zurück und wurde durch Malcolm Gladwells Buch „Outliers“ popularisiert. Ericssons Studien zeigten, dass erfolgreiche Personen wie Musiker oder Sportler bis zu ihrem 20. Lebensjahr durchschnittlich 10.000 Stunden trainiert hatten. Allerdings ist diese Zahl nicht absolut. Wichtiger als die genaue Stundenzahl sind Faktoren wie Fleiß, Disziplin und ein früher Beginn des Trainings. Dennoch spielt auch Talent eine Rolle. Ericsson selbst betonte später, dass Übung zwar entscheidend ist, aber nicht allein überragende Leistungen garantiert. Talentierte Personen können mit gleicher Übungszeit bessere Ergebnisse erzielen.
Das bedeutet konkret: Als Auszubildender zum Notfallsanitäter ist man Anfänger. Als gerade fertiger Notfallsanitäter ist man es noch immer. Aber wie wird man besser?
Aus eigener Erfahrung sehe ich die Lernkurve im Rettungsdienst wie die Ausbildung eines Musikers oder Sportlers: am Anfang mühsam und von Wiederholungen geprägt, doch mit der Zeit verwandelt sich die Technik in Intuition. Ebenso wie ein Pianist seine Fingerfertigkeit durch ständige Übung perfektioniert oder ein Sportler durch Training Bewegungsabläufe automatisiert, erarbeitet sich ein Notfallsanitäter die Fähigkeit, lebensbedrohliche Sachverhalte zu erfassen, durch immer wiederkehrende Einsätze. Theoretisches Wissen legt im Rettungsdienst die Basis, aber nur die Praxis trifft den Ton. Jeder Einsatz fügt der Partitur neue Noten hinzu, jedes Szenario schärft die Fähigkeit, Variationen zu erkennen und darauf einzugehen. Wie ein Schachspieler, der nach zahllosen Partien Muster blitzschnell erkennt, gewinnt der erfahrene Notfallsanitäter die Fähigkeit, auch unter Druck das große Ganze zu sehen und ruhig und gelassen zu agieren. Routine ist hierbei nicht bloße Wiederholung – sondern die Kunst, in den immer gleichen Abläufen die Nuancen zu erkennen, die den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ausmachen.
Diese Parallelen zeigen, dass Erfahrung keine Langeweile bedeutet, sondern die Verfeinerung des Handwerks. Wer den Gipfel der Lernkurve erklimmt, sieht klarer – nicht, weil er plötzlich weniger Herausforderungen begegnet, sondern weil er gelernt hat, diese sicher und souverän zu meistern. Und genau wie in der Musik oder im Sport zeigt sich wahre Meisterschaft nicht in der Perfektion, sondern in der Fähigkeit, selbst in der Unvorhersehbarkeit elegant zu agieren. Hieraus haben sich für mich einige Erkenntnisse herauskristallisiert. Ich kann die Erkenntnisse aus dem Buch „Outliers“ nur bestätigen. Wenn ich auf meine Laufbahn zurückblicke, fallen mir einige Schlüsselmomente und Prinzipien ein, die mir besonders geholfen haben, mich weiterzuentwickeln. Vielleicht findest du dich in manchen davon wieder – oder sie geben dir Anregungen, eigene Wege zu finden:
Um gut zu sein, benötigt man also eine gute Ausbildung, Erfahrung, Kaltschnäuzigkeit sowie eine Prise Talent. Doch die wahre Kunst liegt darin, diese Zutaten im richtigen Moment abrufen zu können. Automatisierte Abläufe schaffen Raum für Entscheidungen, die Leben retten können.
Letztlich ist der kompetente Notfallsanitäter nicht der, der alles weiß, sondern der, der in den entscheidenden Momenten ruhig bleibt, die richtigen Schritte einleitet und nie aufhört, dazuzulernen. Denn wer glaubt, alles zu beherrschen, hat aufgehört, besser zu werden.
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