Ob ein Patient in die Notaufnahme gehört, ist nicht immer eindeutig zu beurteilen. Drei Einsätze, drei schwierige Entscheidungen: Wen hättet ihr – notfalls auch mit Überzeugungskraft – auf die Liege verfrachtet?
Herr Exner hat die 112 gerufen, weil er bei sich einen erhöhten Blutdruck gemessen habe und jetzt Schwindel angibt. Bei Ankunft zeigt sich ein Blutdruck von 160/100 mmHg und ein ansonsten jetzt komplett beschwerdefreier Patient. Die Besatzung des RTW ist der Meinung, dass hier kein Notfall vorliegt. Der Patient möchte aber in die Klinik.
Herr Stopoteck bekommt schlecht Luft. Er hadert mit sich selbst, weil er eigentlich nicht in die Klinik will, aber so geht es auch nicht. Schließlich wählt er die 112. Der eintreffende Rettungsdienst in Form eines Rettungswagens ist besetzt mit einer Notfallsanitäterin und einem Rettungssanitäter.
Der Patient wird erstmal aufrecht hingesetzt, ein Fenster wird geöffnet. Nach kurzer Anamnese stellt sich heraus, dass eine sichere Diagnose hier nicht gestellt werden kann. Für eine erweiterte Diagnostik ist eine Einweisung in die Klinik nötig. Im EKG zeigen sich Veränderungen, die einen Herzinfarkt vermuten lassen. Der Patient will aber nicht in die Klinik. Er will, dass man ihm jetzt hier eine Spritze gegen die Luftnot gibt und dann möchte er zuhause bleiben.
Er ist bekannter Alkoholiker und in der Wohnung gestürzt. Dabei ist er mit dem Kopf gegen die Heizung geprallt und hat sich eine Kopfplatzwunde zu gezogen. Bei Ankunft des Rettungsdienstes hat er eine lallende Sprache, wirkt ansonsten orientiert. Er hat den Rettungsdienst gerufen, weil er auf dem Boden liegt und nicht mehr hoch kommt. Nachdem der Rettungsdienst ihm die Kopfplatzwunde verbunden, ihm aufgeholfen und ihn auf die Couch verfrachtet hat, möchte er in Ruhe gelassen werden. Er verweigert eine Mitfahrt in die Klinik. Als der Notfallsanitäter ihn überzeugen will mitzukommen reagiert er aggressiv.
Mal ehrlich – wen hättet ihr mitgenommen? Alle drei? Keinen? Tatsächlich sind genau das die Situationen, die jungen Notfallmedizinern am meisten Bauchschmerzen machen. Ein schwer blutender Patient mit stärksten Schmerzen nach einem Verkehrsunfall – da wird wohl niemand diskutieren. Der möchte Hilfe und zwar so viel wie möglich, da ist die Sachlage klar. Wesentlich häufiger ist es im Rettungsdienst aber so, dass man mit den Patienten diskutieren muss. Die einen sind sehr krank und sehr uneinsichtig, andere sind gar nicht so krank, aber glauben sie wären ein ganz schlimmer Notfall.
Wir dürfen uns dabei nie von unseren Emotionen leiten lassen, sondern müssen immer auf Basis der Fakten entscheiden. Die drei Patienten stehen sinnbildlich für verschiedene Patientengruppen, die uns so oder so ähnlich immer wieder begegnen.
Herr Exner ist der typische Fall eines Patienten, der weiß, was er am Telefon sagen muss, damit der Rettungsdienst kommt. Manche kennen sogar die Stichwörter wie „Luftnot“ oder „starke Schmerzen“, bei denen die Leitstelle regelhaft einen Notarzt raus schicken muss. Diese Menschen sind häufig sehr einsam, haben teils über Tage mit niemandem gesprochen. Gesundheitliche Probleme verfangen sich in einer Echokammer und werden so immer größer. Da ist niemand mehr, der korrigierend beruhigen könnte. Und wenn man die 112 ruft, hat man ja immerhin erstmal jemanden zum Sprechen. Die medizinischen Probleme sind oft Bagatellen und regelhaft meist kein Fall für den Rettungsdienst.
Herr Exner hat offensichtlich einfach etwas zu oft den Blutdruck gemessen und sich vielleicht auch in etwas herein gesteigert. Der Blutdruck ist etwas erhöht und sollte langfristig z. B. durch den Hausarzt eingestellt werden. Ein Notfall liegt hier nicht vor. Wenn wir den Patienten aber gegen seinen Willen zuhause lassen wollen, müssen wir sehr viel dokumentieren.
Es muss ein ausführlicher Befund des Patienten erstellt werden mit Vitalwerten, differenzierter Dokumentation des Bewusstseinszustands und Einordnung aller vom Patienten genannten Beschwerden. Der Patient muss über Alternativen aufgeklärt werden (Hausarzt, Notdienst, eigene Anfahrt zur Klinik) und es muss auch geklärt werden, ob und ggf. wie er diese erreichen kann. Die Einwilligungsfähigkeit des Patienten muss bestätigt werden und der Patient und am besten weitere Zeugen müssen das unterschreiben.
Viele Kollegen scheuen diese ausführliche Dokumentation, packen die Patienten einfach ein und fahren in die nächste Notaufnahme. Das frustriert alle Beteiligten und es wäre sehr wünschenswert, wenn es hier zukünftig bessere Möglichkeiten geben würde. Grundsätzlich könnte man ihn aber zuhause lassen und ich würde das auch so empfehlen. In der nächsten Klinik wird ohnehin meist nur eine oberflächliche Untersuchung gemacht und der Patient nach sechs Stunden Wartezeit ohne Ergebnis und mit Verweis auf eine weitere Behandlung durch den Hausarzt entlassen.
Schwieriger ist es bei Herrn Stopoteck. Der hat ja wirklich ein Problem, vielleicht sogar mehrere. Aber dürfen wir ihn zuhause lassen? Oder müssen wir ihn mitnehmen? Zur Erinnerung: Im EKG finden sich Hinweise auf einen Herzinfarkt, er hat auch Luftnot.
Und um es vorwegzunehmen: Ja, Herr Stopoteck darf zuhause bleiben. Jeder Mensch hat ein Recht auf Krankheit. Es gibt keine Behandlungspflicht, schon gar nicht gegen den Willen des Patienten. Voraussetzung ist, dass der Patient die Tragweite seiner Entscheidung verstehen kann. Der Patient muss einwilligungsfähig sein – nicht geschäftsfähig.
Geschäftsfähig muss man sein, wenn man beispielsweise Verträge rund um Finanzen abschließen möchte. Für die Einwilligungsfähigkeit reicht es aus, dass ein Mensch die Tragweite einer medizinischen Maßnahme versteht und eine selbstbestimmte Entscheidung darüber treffen kann. Ich erkläre den Patienten sehr klar, dass sie einen sehr unschönen Tod sterben können, wenn sie in so einem Fall die Mitfahrt verweigern. Das muss man ohne Fachchinesisch vermitteln. Wenn der Patient auch im Wissen eines tödlichen Ausgangs einen Verbleib zuhause wünscht, müssen wir das akzeptieren. Umso wichtiger finde ich es, ihnen klarzumachen, dass sie jederzeit wieder die 112 rufen können und kein schlechtes Gewissen haben müssen, wenn wir gerade erst weg sind.
Das dokumentiere ich dann auch ausführlich und lasse eine Kopie der Aufklärung beim Patienten. Es ist ja gut möglich, dass der Patient eine Stunde später wieder anruft und wir dann z. B. in einem anderen Einsatz gebunden sind und deshalb ein anderes Rettungsmittel zu ihm kommt.
Damit Herr Stopoteck zuhause bleiben kann, müssen ein paar Bedingungen erfüllt sein:
Herr Stopoteck darf also durchaus zuhause bleiben. Ich versuche meist Nachbarn zu gewinnen, die vielleicht im Abstand von ein bis zwei Stunden mal nach dem Patienten schauen und ermutige diese ggf. den Rettungsdienst zu rufen, falls sich der Zustand verschlechtert.
Es ist nicht leicht das zu akzeptieren, auch für uns nicht. Wir wollen helfen, wir können helfen. Aber zu einem Hilfsangebot gehören immer zwei. Einer, der das Angebot macht und einer, der das Angebot annimmt. Die Gründe, warum Menschen Hilfe ablehnen, können vielfältig sein.
Zuletzt dann noch Herrn Zehzweier. Hättet ihr ihn zuhause gelassen?Wohl kaum. Dass Herr Zehzweier mitkommen muss, ist relativ klar. Die Beeinträchtigung des Bewusstseins und die verschwommene Sprache können vom Alkohol kommen – und das ist auch die wahrscheinlichste Variante. Es ist aber auch möglich, dass der Anprall des Schädels an der Heizung zu einer Hirnblutung geführt hat und die Sprache deshalb verwaschen ist.
In seinem Zustand ist Herr Zehzweier mit hinreichender Sicherheit nicht mehr in der Lage, die Tragweite der Ablehnung einer Therapie zu erfassen. Herr Zehzweier ist nicht einwilligungsfähig. Hier wird es meist für alle Beteiligten unschön und es ist eine große Kunst, die Situation nicht eskalieren zu lassen, sondern den Patienten möglichst doch noch zu überzeugen, freiwillig mitzukommen.
Wenn er sich nicht überzeugen lässt, muss ich davon ausgehen, dass eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung besteht. Dann greift nach § 34 StGB der rechtfertigende Notstand und der Patient kann auch gegen seinen Willen einer Behandlung zugeführt werden. Ich sagte ja, das ist für alle Beteiligten unschön.
Als Notfallsanitäter und Notärztin muss ich also immer als erstes klären: Ist der Patient einwilligungsfähig? Wenn man diese Frage sicher bejahen kann, dann darf ein Patient auch dann zuhause bleiben, wenn wir eine Behandlung für sinnvoll, notwendig und geboten halten.
Die Schilderung der Fälle dient einer Vereinfachung des Sachverhalts und es können sich im Einsatzgeschehen immer Situationen ergeben, die ein anderes Vorgehen rechtfertigen können. Jeder Fall ist anders, jede Erkrankung ist anders und jeder Mensch ist sein eigenes Experiment. Es gibt keinen Einsatz ein zweites Mal, die Karten werden jedes Mal neu gemischt und was in dem einen Fall korrektes Handeln ist, kann in einem anderen Setting schon falsch sein.
Deshalb steht man aber noch lange nicht „mit einem Bein im Gefängnis“ wie es immer wieder kolportiert wird. Wer glaubwürdig belegen kann, im besten Sinne der Patienten gehandelt zu haben, ist rechtlich fast immer auf der sicheren Seite.
Wer eine solche Entscheidung dann noch plausibel und nachvollziehbar dokumentiert, kann entspannt zur Wache zurück fahren und vielleicht sogar ein bisschen ruhen – bis der Melder das nächste Mal klingelt.
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