„Dicke Menschen sind einfach nur faul“ – dass es nicht ganz so einfach ist, kommt langsam in den Köpfen der Ärzte an. Wie stark das Gehirn bei Adipositas verändert ist, lest ihr hier.
„Ich habe im Studium noch gelernt, dass man Patienten mit Adipositas einfach sagen soll, dass sie mehr Sport machen und gesünder essen sollen,“ erzählt Dr. Ruth Hanßen, Fachärztin für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie auf der Pressekonferenz zum diesjährigen Jahreskongress der deutschen Gesellschaft für Endokrinologie. Inzwischen habe sich aber die Erkenntnis eingeschlichen, dass es eben doch nicht ganz so einfach ist. Deshalb ist ein Schwerpunkt des Kongresses der Zusammenhang zwischen Umwelt, Gehirn und Gewicht.
Bei Adipositas und Insulinresistenz konnte gezeigt werden, dass diese Erkrankungen mit chronischen Gehirnveränderungen assoziiert sind, erklärt die diesjährige Kongress-Sekretärin. Besonders das Belohnungssystem sei betroffen, weshalb bei Menschen mit Adipositas die Entscheidungsfindung und die Motivation häufig beeinträchtigt sind. Deshalb sei das Umsetzen von Maßnahmen wie gesunder Ernährung und Sport auch so schwierig: „[Die Patienten] müssen gegen das Gehirn arbeiten.“
Es bestehe auch ein klarer Zusammenhang zwischen Adipositas und verschiedenen psychischen und kognitiven Erkrankungen, ergänzt Dr. Sharmili Thanarajah, Fachärztin für Neurologie. Es bestehe beispielsweise eine Assoziation zwischen Adipositas und Depression – und zwar in beide Richtungen. Patienten mit dieser doppelten Erkrankung sprechen in der Regel auch schlechter auf Therapien an, was dann schnell in eine Abwärtsspirale mündet. Dazu kommt die Stigmatisierung, die zu einem sozialen Rückzug führt, welcher wiederum in noch schlechterem Essverhalten enden kann – aus Frust, Einsamkeit, oder weil es nur noch so wenig gibt, was das Belohnungssystem ausreichend stimuliert.
Auch ist eine Adipositas im mittleren Alter, zwischen 35 und 50 Jahren, mit einem erhöhten Risiko, später an Demenz zu erkranken, assoziiert. Interessanterweise ist eine Adipositas im höheren Alter eher mit einer protektiven Wirkung gegen Demenz in Verbindung gebracht worden. Allerdings wird hier noch weitere Forschung benötigt.
Auf die Frage, ob die Veränderungen im Gehirn reversibel seien, antwortet Dr. Hanßen: „Die korrekte Antwort ist, wir wissen es nicht.“ Aktuelle Maus-Studien wiesen jedoch darauf hin, dass sie nicht reversibel sind. Deshalb sei es wichtig zu verstehen, dass eine Adipositas-Therapie eine lebenslange, multimodale Aufgabe sei. Dazu zählen die altbekannten Beratungen zu Verhalten, Ernährung und Sport, sowie Medikamente und gegebenenfalls bariatrische Operationen.
Doch auch wenn gerade die klassischen Ansatzpunkte schon lange bekannt sind, gebe es dort noch viel Luft nach oben, betont Dr. Thanarajah. Die neuen Erkenntnisse zeigen, dass es eine viel tiefgreifendere Intervention brauche als die bloße Aufforderung, mehr Sport zu treiben und gesünder zu essen. „Es sind nicht nur Entscheidungen des Einzelnen, sondern [es geht auch um] wichtige politische Entscheidungen.“
Beispielsweise müssten wir unsere Ernährungsumgebung verändern, denn die großen Lebensmittelhersteller haben schon lange erkannt, wie sie die veränderten Belohnungssysteme von adipösen Menschen am besten nutzen können. Hier bräuchte es ein Eingreifen der Politik, um Betroffene besser zu schützen. Deshalb sieht sie die neuen Erkenntnisse auch als Chance: „Es zeigt uns, dass wir viele Möglichkeiten haben, etwas zu verändern. Es ist also eigentlich eine positive Nachricht an Ärzte und Politiker, dass es Zeit ist, auf die Daten zu schauen und Maßnahmen zu ergreifen.“
Bildquelle: Ufoma Ojo, Unsplash