Globuli wirken nicht über den Placeboeffekt hinaus. In akuten, lebensbedrohlichen Situationen wie Schock, Sepsis oder Herzstillstand haben sie daher nichts verloren – klar, oder? Für einige Ärzte offenbar nicht.
Credit: Fass und BündnerNeulich in der Buchhandlung: Ein dicker Schmöker mit dem Titel „Homöopathie in der Intensiv- und Notfallmedizin“ hat mich überrascht. Das Buch musste doch genauer betrachtet werden.Klar: Viele Menschen, auch Ärzte und Apotheker, sehen in Homöopathie eine sanfte, nebenwirkungsarme Option bei Bagatellerkrankungen. Auch wenn der wissenschaftliche Nachweis einer spezifischen Wirksamkeit über den Placeboeffekt hinaus fehlt, berichten Anwender oft von subjektiven Besserungen – Placebo eben.
Nur geht es hier nicht um Husten oder Schnupfen, sondern um Sepsis, Atemstillstand, Herzinfarkt oder Polytrauma. Dass in solchen Situationen Zeit, Evidenz und schnelles Handeln über Leben und Tod entscheiden, ist klar.
Homöopathische Globuli oder Tropfen können keine Blutung stillen, keinen Kreislauf stabilisieren und keine Infektion bekämpfen. Trotzdem werden im Buch Anwendungen für homöopathische Mittel bei Zuständen wie Atemnotsyndrom, Schock, schwerer Blutung oder Herzrhythmusstörungen beschrieben – stets als „begleitende Maßnahme“, doch ohne klare Trennungslinie zur Standardtherapie.
Kann eine auf nicht nachweisbaren, „potenzierten“ Inhaltsstoffen basierende Methode wirklich einen Platz in der akuten, oft lebensbedrohlichen Notfall- und Intensivmedizin beanspruchen? Die Antwort muss meiner Meinung nach aus wissenschaftlicher Perspektive eindeutig NEIN lauten. Nur genau das sehen die Autoren – teils ärztlich tätig, teils aus der homöopathischen Praxis – anders.
Sie versuchen wortreich, eine Brücke zwischen der evidenzbasierten Intensiv- und Notfallmedizin und der Homöopathie zu schlagen. Ihr Anspruch: Ergänzung statt Ersatz. Auch hier findet sich wieder die alte Mär, homöopathische Kügelchen oder Tröpfchen zusätzlich zur evidenzbasierten Therapie zu geben, um was auch immer zu erreichen. Doch die Cochrane Collaboration und nahezu alle relevanten medizinischen Fachgesellschaften weltweit kommen nun mal zu dem Schluss: Homöopathie wirkt nicht über den Placeboeffekt hinaus.
Die Autoren versuchen deshalb auch, sich abzusichern. So heißt es regelmäßig, dass die Homöopathie kein Ersatz für etablierte intensivmedizinische Maßnahmen sei. Doch dieser Vorbehalt wird durch die Vielzahl an konkreten Fallbeispielen und Therapieempfehlungen relativiert. Die Darstellung suggeriert oft eine therapeutische Relevanz der Homöopathie, die sie schlicht nicht hat.
Noch problematischer wird es, wenn die Autoren schreiben, bestimmte homöopathische Mittel würden helfen, Nebenwirkungen intensivmedizinischer Therapien zu lindern – etwa bei Sedierung oder Beatmung. Auch dafür gibt es keinerlei stichhaltige Belege. Randomisierte, kontrollierte Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Mittel als Ergänzung in der Notfall- oder Intensivmedizin sucht man vergebens. Das Werk arbeitet stattdessen oft mit Erfahrungsberichten, anekdotischen Fallstudien oder subjektiven Einschätzungen von Anwendern; allesamt Quellen, die wissenschaftlich betrachtet keiner Überprüfung standhalten.
Die damit verbundene Gefahr ist für mich offensichtlich: Wenn medizinisches Personal – insbesondere in stressigen, unübersichtlichen Situationen – Homöopathika als „sanfte Unterstützung“ versteht, besteht das Risiko, dass wichtige evidenzbasierte Maßnahmen verzögert oder sogar unterlassen werden.
In einem Bereich, in dem höchste Standards, strukturierte Abläufe und wissenschaftlich abgesicherte Leitlinien den Takt vorgeben, präsentieren die Autoren einen Alternativansatz, der sich weder reproduzieren noch überprüfen lässt. Es besteht die große Gefahr, dass sich einzelne Akteure durch die scheinbare „Harmlosigkeit“ der Homöopathie verleiten lassen, sie unreflektiert in die Versorgung einzubinden.
„Homöopathie in der Intensiv- und Notfallmedizin“ erscheint mir als Beispiel für die schleichende Verwischung der Grenze zwischen wissenschaftlich fundierter Medizin und pseudomedizinischem Wunschdenken. Die Kombination aus lebensbedrohlichen Krankheitsbildern und unwirksamen Therapiemethoden ist keine harmlose Ergänzung, sondern ein Spiel mit der Sicherheit der Patienten.
Wer dieses Buch liest, sollte dies nicht als Einladung verstehen, Homöopathie in der Notfallversorgung anzuwenden, sondern als Anlass zur kritischen Auseinandersetzung mit dem zunehmenden Einfluss nicht evidenzbasierter Methoden. In der Intensivmedizin zählt jede Minute – und vor allem: jede evidenzbasierte Entscheidung. Globuli haben da keinen Platz.
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