Bisher konnte die spinale Muskelatrophie erst nach der Geburt behandelt werden – einige Kinder haben dann aber schon Symptome. Nun macht eine Fallbeschreibung Hoffnung auf eine Therapie in der Schwangerschaft.
Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine neurodegenerative Erkrankung, die zum partiellen Verlust von α-Motoneuronen führt. Sie ist eine der häufigsten autosomal-rezessiven Erkrankungen in Europa, mit einer Inzidenz von etwa 1:10.000 Lebendgeburten. Die Erkrankung tritt meist im Säuglingsalter auf und ist die häufigste monogene Erkrankung, die bereits im Kindesalter zum Tode führen kann.
Eine SMA wird mehrheitlich durch eine Defektmutation der SMN-Gene (SMN1 und SMN2) verursacht. Meist ist das SMN1-Gen betroffen. SMN1 ist für ca. 90 % der Proteinmenge verantwortlich. SMN2 kann eine Mutation im SMN1-Gen teilweise kompensieren. Die spinale Muskelatrophie wird nach Schweregrad und Manifestationsalter in 4 Typen eingeteilt und ist abhängig von der Anzahl der SMN2-Kopien.
Bei der SMA Typ I treten bereits in den ersten 6 Lebensmonaten Symptome auf. Dazu gehören generalisierte Paresen und eine muskuläre Hypotonie, die sich u. a. in einer allgemeinen Bewegungsarmut mit fehlender Kopfkontrolle und Sitzunfähigkeit ausdrückt. Weiterhin kommt es zu Atemstörungen, Trinkschwäche und Schluckstörungen, sodass ein Großteil der Betroffenen aufgrund einer respiratorischen Insuffizienz oder Pneumonie im ersten Lebensjahr versterben.
Anamnese und klinische Untersuchung wecken den Verdacht auf eine SMA, insbesondere findet man beim Typ I eine generalisierte Areflexie und beinbetonte proximale Paresen. Eine Elektromyographie (EMG) grenzt die Diagnose ein, eine molekulargenetische Untersuchung bestätigt sie. Weiterhin ist die SMA Bestandteil des Neugeborenenscreenings.
Für die Eltern eines betroffenen Kindes besteht in jeder weiteren Schwangerschaft eine Wiederholungswahrscheinlichkeit von 25 % für ein weiteres, in ähnlicher Weise betroffenes Geschwisterkind. In einer Folgeschwangerschaft besteht die Möglichkeit einer Pränataldiagnostik auf SMA oder einer vorausgehenden Präimplantationsdiagnostik.
Neben physiotherapeutischen Ansätzen, orthopädischen Hilfsmitteln und psychosozialer Unterstützung betroffener Familien, spielen in den letzten Jahren zunehmend medikamentöse Therapien eine Rolle:
Bei der SMA setzt der Beginn der fortschreitenden Neurodegeneration bereits vor der Geburt ein. Bei der schwersten Form – SMA Typ I – haben die Kinder teils schon bei Geburt Symptome. Eine pränatale Therapie wäre also sinnvoll. In Tierstudien wurde der transplazentare Übergang von Risdiplam, der für eine pränatale Therapie notwendig ist, bereits nachgewiesen. Die US-amerikanische FDA hat daher der Durchführung einer N-of-1-Studie, d. h. der Untersuchung eines einzigen Behandlungsfalls, mit Risdiplam in der Schwangerschaft zugestimmt.
Es handelte sich dabei um einen speziellen Fall, da die betroffene Familie bereits ein Kind durch SMA verloren hatte und daher eine gezielte Pränataldiagnostik möglich war. In der Folgeschwangerschaft wurde durch eine Amniozentese eine SMA Typ 1 diagnostiziert. Daraufhin erhielt die Mutter täglich 5 mg Risdiplam im Zeitraum zwischen den Schwangeschaftswochen 32+5 und 38+6. Nebenwirkungen des Medikaments, wie Pyrexie, Kopfschmerzen, Hautausschläge oder Diarrhö wurden bei der Mutter nicht beschrieben. Die Schwangerschaft wurde wöchentlich kontrolliert, insbesondere wurden engmaschige sonographische Verlaufskontrollen erhoben. Die Spiegel von Risdiplam und des SMN-Proteins wurden bei der Geburt sowohl im mütterlichen und kindlichen Blut als auch im Fruchtwasser bestimmt.
Kurz nach der Geburt wurden ein rückläufiges Herzgeräusch, eine leichte Sehschwäche und eine milde rechtsseitige Hemiparese aufgrund einer Hypoplasie des linken Mittelhirns diagnostiziert. Diese kongenitalen Anomalien wurden von Experten nicht der Medikamentenexposition, sondern einer früheren fetalen Entwicklungsstörung zugeordnet. Auch Tierversuche zeigten keine diesbezüglichen Zusammenhänge.
Eine Woche postpartal wurde mit der oralen Verabreichung von Risdiplam begonnen. Diese wird seitdem täglich fortgeführt. Die Nachbeobachtungszeit beträgt nunmehr 2,5 Jahre und wird alle 6 Monate verifiziert.
Die gute Nachricht: Bisher traten keine Anzeichen einer SMA auf. Motorische Funktionstests und elektrophysiologische Untersuchungen zeigten bisher eine altersgemäße Entwicklung der peripheren Nerven und des Muskelaufbaus.
Die spinale Muskelatrophie ist eine schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung, die für betroffene Familien ein medizinisches und ethisches Dilemma darstellt.
Ist bereits ein Geschwisterkind betroffen, ist eine gezielte Pränataldiagnostik oder sogar Präimplantationsdiagnostik sinnvoll. Wurde eine SMA in der Schwangerschaft nachgewiesen, könnte eine bereits intrauterin beginnende Therapie mit Risdiplam eine wertvolle Option für betroffene Familien sein. Da bislang erst ein Fall beschrieben wurde, sind derzeit keine Rückschlüsse auf individuelle Ansprech- und Nebenwirkungsraten oder auf Langzeitdaten möglich. Die aufgetretenen Entwicklungsstörungen des Kindes in dem Fallbereicht sind laut Experten zwar nicht auf das verabreichte Medikament zurückzuführen, sollten jedoch Anlass für eine besonders sorgfältige Prüfung in zukünftigen Studien sein.
Dennoch könnte das plazentagängige Risdiplam ein Hoffnungsschimmer für Familien sein, bei denen eine SMA bereits in der Schwangerschaft diagnostiziert wurde.
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