Vitamin D wird in den sozialen Medien als Immun-Booster gefeiert. Eine ältere Metaanalyse zeigte zwar minimalen Schutz gegen Atemwegsinfekte – doch neue Studien stürzen den Hoffnungsträger vom Thron.
Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Überzeugung viele Menschen Vitamin D einwerfen – als wären die Kapseln ein Rettungsanker vor dem sicheren Tod durch respiratorische Viren aller Art. Ist eine Erkältung im Anmarsch? Schnell ein paar Supplemente schlucken, am besten hochdosiert – so heißt es zumindest bei Social Media.
„So stärkst du das Immunsystem deines Kindes“, „Vitamin D stärkt unser Immunsystem und kann Entzündungen reduzieren“ oder „Vitamin D stärkt dein Immunsystem und hilft, Infektionen abzuwehren“: Die sozialen Medien sind voll von „guten“ Ratschlägen, wie grippale Infekte abzuwehren sind. Aggressive Werbung von Herstellern und Influencern befeuert diese Irrationalität zusätzlich. Da wird mit Angst gespielt, mit vermeintlicher „Wissenschaftlichkeit“ geworben und suggeriert, ein paar Kapseln des „Sonnenvitamins“ würden uns unverwundbar machen.
Quellen suchen User bei den Postings – wie so oft – vergebens. Dafür gelangen sie oft mit wenigen Klicks zu Versandapotheken oder zu Online-Shops, um Nahrungsergänzungsmittel zu erwerben. Doch machen Vitamin-D-Supplemente bei Menschen ohne Defizit wirklich Sinn, um das Immunsystem zu boostern? Ich habe da so meine Zweifel.
Ein kurzer Rückblick: Im Jahr 2021 sorgte eine große Metaanalyse für Begeisterung. Vitamin-D-Präparate schienen tatsächlich vor akuten Atemwegsinfektionen zu schützen, hieß es damals in der Publikation.
Insgesamt hatten die Forscher 46 randomisierte Studien mit 75.541 Teilnehmenden in ihre Analyse einbezogen. Für den primären Endpunkt – das Auftreten mindestens einer Atemwegsinfektion – lagen aus 43 Studien Daten von 48.488 Personen im Alter von 0 bis 95 Jahren vor. Die Ergebnisse zeigten, dass unter Vitamin D weniger Menschen mindestens eine Atemwegsinfektion erlitten (61,3 %) als unter Placebo (62,3 %): eine minimale, aber immerhin statistisch signifikante Risikoreduktion (Odds Ratio 0,92).
Wie relevant der Effekt ist, bleibt fraglich – vor allem, da einige Probanden die Supplemente monatelang eingenommen hatten und nicht erst zu Beginn der Erkältungssaison, wie oft propagiert.
Ein echter Gamechanger sieht jedenfalls anders aus. Dennoch befeuerte die Arbeit den Boom rund um Vitamin-D-Supplemente weiter. Millionen griffen zu den Mitteln, in der Hoffnung, Atemwegsinfektionen zu vermeiden.
Doch eine aktualisierte Metaanalyse macht frühere Hoffnung ganz zunichte. Wissenschaftler haben jetzt sechs neue, hochwertige Studien mit insgesamt über 19.000 Teilnehmern ausgewertet, darunter eine umfassende Studie mit mehr als 15.000 Probanden.
Das Ergebnis ist ernüchternd: Der Schutz durch Vitamin D ist nicht mehr statistisch signifikant (Odds Ratio 1,0). Ein Schutzeffekt lässt sich nicht belegen. Auch in Detailanalysen zeigte sich: Egal ob jung oder alt, mit oder ohne Vitamin-D-Mangel, mit hoher oder niedriger Dosis – niemand profitierte in Bezug auf Infekte von der Supplementierung. Selbst das Risiko für schwerwiegende Nebenwirkungen war bei Vitamin D und Placebo gleich.
Der einstige Heilsbringer wurde somit vom Thron gestoßen. Alle Daten deuten darauf hin, dass Vitamin D als Maßnahme zur Vorbeugung von Atemwegsinfekten bei der Durchschnittsbevölkerung keinen Effekt zeigt.
Und wer glaubt, sich mit Nahrungsergänzungsmitteln „winterfest“ zu machen, vernachlässigt womöglich die wirklich wirksamen Maßnahmen:
Natürlich gibt es Personen, die niedrige Spiegel an Vitamin D im Blut haben – Bewohner aus Alten- und Pflegeheimen, Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Personen, die kaum Sonnenlicht abbekommen. Für sie kann eine Supplementierung sinnvoll sein, nach vorheriger Messung.
Viele Vitamin-D-Verfechter haben mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Mangel – und lassen das auch nie überprüfen. Wozu auch? Der Glaube kann Berge versetzen, inklusive Placebo-Effekt.
Bildquelle: erstellt mit DALL-E