Aufgebracht steht Frau Gärtner in meiner Apo. Das Pflegeheim hat ihre Verordnung geändert und sie kann gar nicht verstehen, wieso. Vielleicht sollte man manchmal doch mit den Alten reden – und nicht nur über sie.
Ich arbeite seit über 20 Jahren in meiner Apotheke. Ich habe Medikamente an Babys abgegeben, die jetzt junge Erwachsene mit Arbeit sind. Ich habe Erwachsene betreut, die pensioniert wurden und jetzt im dritten Lebensdrittel sind. Viele von diesen halten es wie meine Eltern und Schwiegereltern: Sie wohnen noch lange in ihrer eigenen Wohnung und sind erstaunlich fit und selbstständig. Wir unterstützen sie darin aus der Apotheke – mit den (richtigen) Medikamenten, mit Hilfe bei deren Einnahme (wie Wochen-Dosiersystemen) und gelegentlichen Hauslieferungen.
Bei manchen mache ich mir schon Sorgen. Ich weiß, wie schnell sich das ändern kann. Ein Spitalaufenthalt später und man ist auf (viel mehr) Hilfe angewiesen: Verwandte (vielleicht), die Haushilfe, Pflege- und Altersheim. Die Umstellung fällt so manchem schwer. Sie fühlen sich bevormundet, ihrer Selbständigkeit und Freiheit beraubt.
Und so kommen wir zu der Renitenz. Frau Gärtner ist eine inzwischen über 80-jährige Frau, die wir schon … ewig betreuen. Wahrscheinlich kommt sie zu uns, seit wir eine Apotheke sind. Sie lebt alleine und hatte definitiv schon immer ihren eigenen Kopf. Sie bekommt unter anderem Antiepileptika, von denen sie immer gleich alle Packungen vom Dauerrezept auf einmal beziehen will. Der Arzt verschreibt das deshalb auch so: X Packungen Lamictal® und Y Packungen Depakine®. Außerdem hat sie inzwischen ein Dauerrezept für Benocten, ein Antihistaminikum, das als Schlafmittel eingesetzt wird. Hier achten wir darauf, dass sie die Dosis nicht selbstständig erhöht, indem wir die Abgabe kontrollieren: Sie kann alle X Tage eine Packung beziehen. Wir hatten deswegen eine Zeitlang Diskussionen, aber so funktioniert es nun – und sie kann damit schlafen.
Frau Gärtner musste Anfang des Jahres ins Spital, danach hat man sie in ein Pflegeheim gesteckt. Letzten Freitag stand sie (nach drei Monaten) dieses Jahr zum ersten Mal wieder bei uns in der Apotheke. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie sich selber entlassen hat, jedenfalls wohnt sie wieder bei sich zu Hause. Und sie war aufgebracht: „Schauen Sie sich das an: Das habe ich bekommen! Ich will das nicht nehmen! Ich will keine Medikamente von der ABC-Apotheke – ich möchte weiter zu Ihnen kommen, das habe ich denen am Telefon auch deutlich gesagt! Und ich weiß gar nicht, was das alles ist, was sie mir gegeben haben?! Ich werde einfach wieder meine Medikamente wie vorher nehmen, ich habe noch welche zu Hause.“
Es hat eine gute halbe Stunde im Beratungsraum gebraucht, um das Ganze auszusortieren und eine Lösung zu finden. Es war so: Das Pflegeheim arbeitet mit der ABC-Apotheke zusammen, die haben ihr die Medikamente verblistert (was wir auch könnten) abgegeben. Im Blisterpack waren die Medikamente in derselben Dosierung, die sie schon hatte, aber statt Lamictal® (Original) gab’s Lamotrigin (Generikum) und statt Depakine® (Original) gab’s Valproat (Generikum) – ein Austausch, den ich bei Antiepileptika aus medizinischen Gründen jetzt nicht so berauschend finde, obwohl ich sonst sehr für Generika bin.
Außerdem haben sie ihr von anderen Medikamenten ganze Packungen mitgegeben, als Reserve zum Beruhigen und Schlafen: Temesta® (Benzodiazepin und starkes Beruhigungsmittel), Zolpidem (Z-Substanz und starkes Schlafmittel) und Redormin® (pflanzliches Schlafmittel aus Baldrianwurzel und Hopfenzapfen). Sie hat noch nicht einmal die Packungen geöffnet – und sie ist schon ein paar Tage zu Hause. Sie hat mir gezeigt, dass sie in der Lage ist, die Medikamente selber in ihr Dosett zu rüsten. Sie nimmt jetzt wieder „ihre“ Medikamente. Die starken Beruhigungsmittel hat sie bei uns gelassen. Ich habe ihr geraten, die Redormin® zu versuchen, wenn sie Probleme beim Schlafen hat.
Ich finde das ja irgendwie nett, dass die Leute gerne zu uns kommen. Vielleicht ist es auch nur, weil wir für sie ein Stück weit Eigenständigkeit und Selbstbestimmung bedeuten. Und auch wenn wir gelegentlich Diskussionen haben – zum Beispiel, wenn wir sehen, wie Beruhigungsmittel falsch genommen werden und wir deshalb eingreifen müssen –, so behandeln wir unsere Patienten doch als selbstständige, eigene Personen.
Denn die Reklamationen, die ich am häufigsten höre, sind, dass sich die Patienten im Heim und von der Haushilfe bevormundet fühlen, dass gegen den eigenen Willen Sachen für sie gemacht oder entschieden werden, die sie noch selber machen könnten oder bei denen sie gerne mitreden würden. Und dagegen wehren sich die renitenten Alten.
Bildquelle: Elimende Inagella, Unsplash