Immer mehr Suchtmediziner gehen in Rente, der Nachwuchs will’s nicht machen – dabei wird der Bedarf immer größer. Was müssen wir ändern?
Ein Text von Dr. Kristina Hopfensperger
Die Mortalitätsrate von Opioidabhängigen ohne Substitutionstherapie ist dreimal höher als die von Menschen, die einen Ersatzstoff erhalten. Trotzdem befinden sich nur knapp die Hälfte der ca. 166.000 Opioidabhängigen in Deutschland in Behandlung. Zum Vergleich: In Spanien, Norwegen und Frankreich sind es bis zu 80 %. Woran liegt das?
Die meisten Substitutionspatienten werden in Hausarztpraxen mitversorgt. Doch diese sind in Kleinstädten und Dörfern rar und ohnehin überlastet. Nur wenige niedergelassene Ärzte sind bereit, zusätzlich zum regulären Praxisbetrieb Substitutionspatienten zu versorgen. Zum Teil kommentieren Kollegen: „Überleg dir gut, ob du 30 Junkies in deiner Praxis haben möchtest. Nachher bleiben dir deine anderen Patienten weg.“ Fakt ist aber: Über 2.500 Hausärzte versorgen Substitutionspatienten in der Regel ohne Probleme.
„Die niedrige Behandlungsrate in Deutschland liegt nicht an der mangelnden Bereitschaft von Betroffenen. Es fehlen Behandlungsplätze.“ – Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Strafvollzug bei der Deutschen Aidshilfe
Um ihre Ersatzstoffe zu erhalten, pendeln viele Patienten täglich oder mehrmals wöchentlich in die nächste Großstadt. Dadurch sind auch die Ballungszentren überlastet. 2020 startete die Deutsche Aidshilfe deshalb die Kampagne „100.000 Substituierte bis 2022“. Gebracht hat das wenig. Die Zahl der Substitutionspatienten stagniert seit Jahren.
Das Gesundheitssystem trägt nicht mehr Behandlungsplätze. Das liegt zum einen an Vorgaben der Kassenärztliche Vereinigungen. So dürfen die meisten Ärzte nicht mehr als 50 Suchtpatienten versorgen. Würde diese Regelung gelockert, könnten neue Behandlungsplätze entstehen.
Außerdem ist die Substitution finanziell nur attraktiv, wenn die Patienten jeden Tag in die Praxis kommen. In Hessen darf ein Arzt bei täglichem Kontakt mit dem Patienten 5,70 Euro pro Tag abrechnen. Pro Woche verdient er damit ca. 40 Euro pro Patient. Verschreibt der Arzt stattdessen eine Take-Home-Substitution, die der Patient eigenständig einnehmen kann, darf der Arzt zweimal pro Woche 10,41 Euro abrechnen. Er verdient also nur halb so viel. Depotpräparate, die der Arzt einmal pro Woche als Gel unter die Haut spritzt, werden noch schlechter vergütet. Der Arzt erhält hier pro Patient pro Woche nur 16,11 Euro. Aus finanziellen Gründen setzen Ärzte Take-Home-Medikamente und Depotpräparate deshalb kaum ein, obwohl sie Patienten ein eigenständigeres Leben ermöglichen könnten.
Anders ist dies in der Schweiz: Hier erhalten Ärzte eine Pauschale, egal ob sie die Patienten jeden Tag sehen oder nur einmal pro Woche. Eine ähnliche Vergütung könnte auch deutsche Praxen entlasten und neue Therapieplätze schaffen.
Strukturelle Veränderungen in der Suchtmedizin sind dringend nötig, denn die Situation wird sich weiter verschärfen. Der Altersdurchschnitt von Suchtmedizinern liegt bei ca. 60 Jahren. Von den 2.600 Substitutionsärzten in Deutschland schieden zwischen 2022 und 2024 über 200 Ärzte aus. In den kommenden Jahren werden viele weitere in Rente gehen. Es gibt kaum Nachfolger – die Suchtmedizin ist für junge Mediziner unattraktiv.
Obwohl mehr als 10 % der Deutschen zu riskantem Alkoholkonsum neigen und über 30 % ständige Raucher sind, spielt das Thema Sucht in der medizinischen Ausbildung kaum eine Rolle.
„Mediziner interessieren sich nur für die Suchtmedizin, wenn sie einen persönlichen Bezug zum Thema haben.“ –Dirk Schäffer
Um mehr junge Ärzte für die Suchtmedizin zu begeistern, müssen die Lehrpläne angepasst werden. Einige KVen empfehlen dies bereits. Es gibt jedoch große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Aktuell hängt der Stellenwert der Suchtmedizin in der medizinischen Ausbildung stark vom Engagement einzelner Lehrenden ab.
Ein weiterer Punkt ist, dass Humanmediziner die Zusatzweiterbildung „Suchtmedizinische Grundversorgung“, die sie für die Behandlung von Suchtpatienten benötigen, erst nach der Facharztprüfung erwerben können. In dieser Karrierephase priorisieren junge Ärzte jedoch oft andere Weiterbildungen, die ihre beruflichen Perspektiven verbessern oder besser auf die Bedürfnisse ihrer jeweiligen Praxis zugeschnitten sind. Wäre die Weiterbildung Teil des regulären Curriculums, wie z. B. bei Psychiatern, würden Nachwuchsmediziner früher auf den Berufszweig aufmerksam. Sie könnten ihren Facharzt und ihre Praxis entsprechend wählen.
Sucht – ein Randthema, das nur Randgruppen betrifft? Wohl kaum. Um die Suchtmedizin attraktiver zu machen, müssen Vorgaben gelockert, Pauschalen abgerechnet, Lehrpläne angepasst und Freiräume geschaffen werden. Geschieht dies nicht, wird sich die Patientenversorgung drastisch verschlechtern. Viel Zeit bleibt nicht mehr.
Bildquelle: Wilhelm Gunkel, Unsplash