Dank Versiegelung der Kauflächen ist das Kariesproblem in den letzten Jahrzehnten geschrumpft. Wann ihr zum Kleister greifen solltet – und wie ihr es richtig macht.
Als hätten Teenager nicht schon genug Probleme, nisten sich in den tiefen, haarfeinen Ritzen ihrer Backenzähne auch noch gerne Kariesbakterien ein. Seit 1993 zahlen die Kassen bis zum Alter von 17 Jahren die Versiegelung von Grübchen und Fissuren mit harten, transparenten Kunststoffen. Heute haben gut zwei Drittel aller Zwölfjährigen in ihrem Gebiss mindestens einen versiegelten Zahn.
Die S3-Leitlinie „Fissuren- und Grübchenversiegelung“ unter Federführung der Deutschen Gesellschaften für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Kinderzahnmedizin sowie Zahnerhaltung haben nun auf 155 Seiten alles Wichtige zum Thema zusammengetragen. Primär richtet sich die Leitlinie an Zahnärzte, sie soll aber auch Hausärzte informieren.
Auch wenn die Belege dafür, dass die Versiegelung von Fissuren und Grübchen (FGV) Karies verhindern kann, nicht wirklich überwältigend sind, werten die Leitlinienautoren den Nutzen eindeutig höher als den Schaden. Die Bilanz fällt umso günstiger aus, je höher das Kariesrisiko der Kinder und Jugendlichen ist. Trotzdem sollen Zahnärzte nicht einfach drauflos versiegeln, sondern die Zähne erst einmal untersuchen. An gesunden Zähnen und bei rein oberflächlichem Karies hält das Versiegeln Bakterien ab oder reduziert ihre Anzahl so weit, dass die Karies quasi eingefroren wird.
Nicht versiegeln muss oder soll man die Backenzähne, wenn sie entweder perfekt gesund oder schon zu angegriffen sind. So kann man laut Leitlinie auf das Versiegeln verzichten, wenn Kinder ihr gesundes Gebiss lehrbuchmäßig pflegen, es jedes halbe Jahr mit Fluoridpaste lackieren lassen und wenn sie sich auch noch vorbildlich ernähren, sodass auch weiterhin praktisch kein Kariesbefall zu erwarten ist. Im Fall einer fortgeschrittenen Karies hilft dagegen nur noch bohren und füllen.
So zufrieden die Autoren auch mit der Gesamtsituation sind, so teilt die Karies-vorbeugende Versiegelung doch das Schicksal vermutlich aller Präventionsmaßnahmen – wer sie am nötigsten hätte, nutzt sie am wenigsten: „Einzelne Berichte signalisieren, dass Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, mit einem Migrationshintergrund sowie mit Behinderungen wesentlich seltener und weniger FGV aufweisen als ihre gesunden Altersgefährten“.
Dem Nutzen, Karies verhindern oder einfrieren zu können, stehen mögliche Schäden gegenüber: Die Versiegelung kann schadhaft werden und dann ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Je unsachgemäßer die Schutzschicht aufgetragen wurde, desto kürzer hält sie. Am besten geeignet sind Kunststoffe auf Methacrylatbasis. Damit der Kunststoff haften bleibt, soll man den glatten Zahnschmelz vorher mit knapp 40%iger Phosphorsäure aufrauen.
Wie die Autoren versichern, kommen Verätzungen, Vergiftungen und Allergien selten vor. Auch Bisphenol A, Formaldehyd und andere toxische Substanzen, die bei nicht vollständiger Polymerisation frei werden, spielen offenbar keine Rolle. Ein schlagendes Argument für deren Unbedenklichkeit: Für das Versiegeln wird viel weniger Kunststoff verwendet als für Füllungen. Wenn dank Versiegeln eine Füllung verhindert werden kann, setzt man sich also unter dem Strich sogar weniger Gift aus.
Zu den meisten Leitlinien gibt es keine allgemein verständliche Patientenfassung und wenn doch, dann hinkt sie viele Monate hinterher. Anders bei dieser Leitlinie: Zeitgleich (!) mit der ärztlichen ist eine Patientenleitlinie erschienen, die die beiden Leitlinienkoordinatoren kurzerhand selbst verfasst haben. Von den 10 Seiten entfallen 3 Seiten auf den eigentlichen Text, 2 Seiten auf die Original-Empfehlungen und der Rest auf für Patienten weitestgehend irrelevante Informationen wie das komplette Autorenverzeichnis. Besser wäre da ein Glossar gewesen, ohne das solche Sätze für Patienten wohl unverständlich bleiben: „Die Fissuren- und Grübchenversiegelung kann an MIH-Molaren mit abgegrenzten Opazitäten/Hypomineralisationen ohne Oberflächeneinbruch in Erwägung gezogen werden.“
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