Das Kratzen ist ein Reflex, der mit Schmerzproduktion den lästigen Juckreiz überdecken soll. Schon lange sucht die Forschung deshalb nach Alternativen zur Selbstverletzung gegen akuten und chronischen Pruritus.
Die Leiden und die Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen erinnern an jene von chronischen Schmerzpatienten. Max von Frey, österreichisch-deutscher Physiologe, der Ende des 19. Jahrhunderts in Würzburg und Zürich lehrte, bezeichnete den Juckreiz als „kleinen Bruder des Schmerzes“. Acht bis neun Prozent der Bevölkerung leidet entsprechend einer Stichprobe an akutem Juckreiz. Bei chronischem Juckreiz sind die Zahlen wohl noch höher und liegen in Deutschland um die dreizehn Prozent. Über das Jucken wird aber im Vergleich zur Schmerzforschung und -behandlung viel weniger geredet.
Noch immer sind die Behandlungsmöglichkeiten für den unerwünschten Hautreiz sehr begrenzt. Nicht selten erzeugt dabei das Bedürfnis, sich zu kratzen, mehr Schaden als die Ursache des Juckens selber. Diese „Kratzschwelle“ liegt aber bei verschiedenen Patienten ganz unterschiedlich hoch und hängt auch vom Auslöser der Irritation ab. Der Leidensdruck ist aber oft enorm. Ein- und Durchschlafstörungen und Stimmungsschwankungen zählen häufig zu den Folgen und Begleiterscheinungen des chronischen Pruritus. Aber auch wenn es noch keine spezifischen Wirkstoffe gibt – wenn man von Antihistaminika bei allergisch bedingten Reizungen absieht – haben insbesondere Neurologen in den letzten Jahren eine Reihe von typischen Eigenheiten der Juckreiz-Sensibilisierung, -Weiterleitung und -verarbeitung herausgefunden. Zum Teil sind die Mechanismen und begangenen Nervenwege dem Schmerz recht ähnlich, zum Teil aber auch spezifisch für den Juckreiz.
Wer den Ursachen des Juckreizes auf den Grund gehen möchte, stößt auf vier typische Gruppen an Auslösern: Dermatologische Störungen, systemische Erkrankungen, neuropathische und psychogene Aberrationen liegen meistens den störenden Nervenreizen zugrunde. Direkt verknüpft mit dem Juckreiz ist etwa das atopische Ekzem und vier von fünf Patienten mit Psoriasis kennen den Juckreiz nur zu gut. Lästiges Dauerjucken spüren aber auch Menschen mit chronischer Niereninsuffizienz. Bei Morbus Hodgkin ist der Reiz oft das erste Zeichen der Krankheit. Bei neuropathischen Leiden wie Multiple Sklerose oder auch postherpetische Neuralgie gehört Pruritus zu den Symptomen. Wahnvorstellungen vom eigenen Körper, wie etwa der Drang ständig seinen Körper von Ungeziefer reinigen zu müssen, sind oft mit einem dauernden Jucken verbunden.
Mögliche Ziele für Inhibitoren sind Rezeptoren, die eher in der Peripherie als im zentralen Nervensystem an der Weiterleitung beteiligt sind. Mrgpr-Rezeptoren (Mas-Related G-Protein-Coupled Receptor) spielen etwa eine große Rolle bei Histamin-unabhängigen Juckreiz-Rezeptoren. Interessanterweise ist MrgprA3 gleichzeitig Rezeptor für das Malariamittel Chloroquin, bekannt für den ärgerlichen Juckreiz als Nebenwirkung. Juckreiz, der gegen Antihistaminika resistent ist, kann auch mit etlichen anderen endogenen Agonisten angestoßen werden, wie etwa Endothelin-1, ß-Alanin oder Serotonin. Für alle diese Pruritogene existieren spezifische Rezeptoren – mögliche Ziele eines zukünftigen Anti-Juckmittels. Eines der bekannteren Pruritogene ist Capsaicin, der Wirkstoff, der Paprika ihre Schärfe verleiht. In höheren Konzentrationen löscht das Brennen den Juckreiz, darunter öffnet es jedoch Ionenkanäle, vor allem bei Neuronen, die auf Histamin reagieren. Aber auch das gilt nur mit Einschränkungen: Nicht alle Histamin-sensitiven Nervenfasern reagieren auf Capsaicin. Unter den „alltäglichen“ Reizen, die bei empfindlichen Patienten den Juckreiz auslösen, finden sich zahlreiche Medikamente: Etliche Antibiotika, Antidepressiva, Mittel gegen hohen Blutdruck oder epileptische Anfälle. „Es ist alles dabei, was täglich in der Praxis verordnet wird, und alles kann Pruritus induzieren“, so Matthias Möhrenschlager von der Hochgebirgsklinik Davos.
Am Beispiel des Zytokins TSLP (Thymic Stromal Lymphopoetin) beschrieben Sarah Wilson und ihre Kollegen aus dem amerikanischen Berkeley in der renommierten Zeitschrift „Cell“ im Herbst letzten Jahres, wie der Entzündungsprozess bei atopischer Dermatitis voranschreitet. Der „Atopische Marsch“ führt nicht selten zu Asthma und allergischer Rhinitis. TSLP findet sich in den Keratinozyten von Atopikern, aber auch in Epithelzellen von Asthmatikern. Wenn etwa Keratinozyten der Haut TSLP sezernieren, kann dieser Faktor direkt spezielle sensorische Neuronen stimulieren, die über Hinterwurzelganglien den Reiz zur Verarbeitung ins ZNS weiterleiten. Dort lösen sie das Kratzen aus, das wiederum die Epidermis verletzt und weiteres TSLP freisetzt. Das Zytokin stimuliert nicht nur Neuronen, sondern auch lymphoide Zellen. Weitere Zytokine wie IL-5 und IL-13 rekrutieren eosinophile Granulozyten und sorgen so für die massive Entzündungsreaktion.
Schmerz und Juckreiz hängen eng zusammen. Schmerz dämpft und überlagert den Juckreiz. Wer aber den Schmerz etwa mit Opiaten behandeln will, landet unter Umständen wieder am Startpunkt. Morphine unterdrücken zwar den Schmerz fördern aber das Jucken. Opiat-Agonisten stehen jedoch auch auf der Liste der Behandlungsmöglichkeiten für Pruritus, besonders bei Patienten mit systemischen Erkrankungen wie etwa solchen mit Niereninsuffizienz. Gegen den neuropathischen Juckreiz helfen in vielen Fällen Gabapentin und Pregabalin. Aktualisierte Leitlinien zur Juckreiz-Diagnose und -Behandlung erschienen vor zwei Jahren in der Fachzeitschrift „Acta Dermato-Venereologica“ in einer Zusammenarbeit der Europäischen Akademie für Dermatologie und Venerologie mit dem Europäischen Dermatologie Forum. Dort hieß es: „Die Leitlinien adressieren ein Symptom, keine Krankheit. Als Folge der Vielzahl zugrunde liegender Krankheiten können wir kein einzelnes Therapiekonzept empfehlen.“ Immer noch gibt es kaum gute aussagekräftige Studien zum Thema Juckreiz – ganz im Gegensatz zur Schmerzforschung. Der „kleine Bruder des Schmerzes“ teilt sich mit ihm viele Charaktereigenschaften, hat aber auch viele Eigenheiten, die eine individuelle Behandlung möglich machen sollten.