Herr M. ist im Krankenhaus bekannt: Er gilt als Nörgler und ist daher nicht sonderlich beliebt. Eines Tages liegt er tot im Bett. Was ist hier passiert?
Herr M. war ein regelmäßiger, nicht gern gesehener Patient in mehreren Krankenhäusern. Mark Earnest begegnete ihm während seiner Assistenzarztzeit gleich mehrfach, bei vier Aufnahmen in drei verschiedenen Kliniken. Earnest arbeitet derzeit an der Medizinischen Fakultät, University of Colorado Anschutz Medical Campus, Aurora, USA. Im NEJM berichtet er vom tragischen Ende des Mannes.
Der Ablauf war immer gleich: Am Nachmittag erschien Herr M. in der Notaufnahme mit starken Brustschmerzen. Die Narbe auf seiner Brust zeugte von einer Bypass-Operation – ein offensichtliches Zeichen für eine Herzerkrankung. Sein EKG waren seit Jahren auffällig, seine Beschwerden ließen sich nicht von der Hand weisen.
Deshalb haben ihn Ärzte regelmäßig auf die Intensivstation verlegt, um seine Vitalparameter über Nacht zu überwachen. Dort begann jedes Mal dasselbe Schauspiel – wie eine medizinische Version von „Und täglich grüßt das Murmeltier“: Nitroglyzerin, das verabreicht wurde, half nichts; es verursachte Kopfschmerzen. Nur Morphin, so gab der Patient an, würde seine Brustschmerzen lindern.
Nachdem das Morphin endlich gewirkt hatte, ging es weiter. Herr M. schimpfte über das Bett, das Essen, die Betreuung. Die Pflegekräfte litten besonders unter seiner Aggressivität, während er sich den Ärzten gegenüber noch halbwegs beherrschte.
Bis spät in die Nacht verlangte er nach weiteren Medikamenten – oft nach Lorazepam. Die Pflegekräfte mussten deshalb regelmäßig die diensthabenden Ärzte kontaktieren. Später umging Earnest die Prozedur, indem er Verordnungen vorbereitete.
Und so lief jede Nacht mit Herrn M. gleich ab: Morphin, Lorazepam, Schlaf. Am Morgen kam dann die Entwarnung: Alle Untersuchungen waren ohne Befund. Der lethargische Patient wurde mit Rezepten, die er nie einlöste, und Terminen in der Kardiologie, die er nie wahrnahm, wieder entlassen. Er war nicht nur im Krankenhaus unbeliebt: Nie kam jemand zu Besuch. Der Patient erwähnte zwei Ex-Frauen und einige Kinder, doch niemand kümmerte sich um ihn.
Nach seinem letzten Besuch in der Notaufnahme wurde er wie üblich erneut stationär aufgenommen – erhielt jedoch eine Lysetherapie, die Blutungen auslösen kann. Earnest instruierte die neue Assistenzärztin über solche Risiken und die bei dem Patienten erwartbaren Eskapaden. Wieder erhielt er Morphin und Lorazepam. Dann kehrte überraschend Ruhe ein.
Am nächsten Morgen lag der Mann schlafend im Bett; sein Frühstück hatte er nicht berührt. Laut Akte hatte er eine recht hohe Dosis Lorazepam bekommen. Earnest versuchte, ihn zu wecken. Der Patient beschimpfte ihn daraufhin kurz und schlief weiter. Bei einer raschen neurologischen Untersuchung bemerkte der Arzt nichts Auffälliges. Alles schien in Ordnung zu sein.
Später am Tag – laut Pflegekraft schlief der Patient wie ein Baby – kam Earnest wieder ans Patientenbett. Herr M. reagierte nicht mehr auf die Ansprache. Bei der Untersuchung zeigte sich: Eine der Pupillen war weit und lichtstarr. Die CT-Untersuchung bestätigte eine massive Hirnblutung. Nach einigen Tagen mussten die Ärzte erkennen, dass Herr M. nie wieder aufwachen würde. Sie stoppten alle lebenserhaltenden Maßnahmen, der Patient starb allein, ohne Angehörige oder Freunde.
Der Tod von Herrn M. rüttelt Mark Earnest auf. Er denkt an „Primum non nocere“ – erst einmal nicht schaden. Doch er hatte ihn geschädigt – durch Gleichgültigkeit, durch Gewohnheit, durch Bequemlichkeit. Weil niemand auf Station den unangenehmen Patienten vermisste, blieben Warnzeichen unbeachtet. Das Team war froh, dass er vermeintlich ruhig schlief. Auch hatte Earnest womöglich eigene Vorurteile auf andere übertragen.
Bereits Francis Weld Peabody (1881–1927), ein amerikanischer Arzt und Dozent an der Harvard Medical School, hatte darauf hingewiesen, dass Empathie und persönliche Zuwendung essenziell für eine gute medizinische Betreuung seien. Doch was passiert, wenn der Patient schwer zu ertragen ist? Earnest musste schmerzlich erfahren: Wo Empathie fehlt, entsteht viel Platz für Nachlässigkeit.
Quelle
Earnest.: The Death of an Unlikable Man. N Engl J Med, 2025. doi: 10.1056/NEJMp2412384
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