Glaube stabilisiert – aber ist auch ein bisschen Selbstbetrug. Kann er damit sogar schädlich werden? Eine schonungslose Analyse einer Psychologin.
Allahu Akbar. Es gibt kaum eine religiöse Überzeugung, die in den letzten Jahren so dreckig missbraucht wurde wie diese Worte. Allahu Akbar. Gott ist groß. Ausnahmslos jede Religion der Welt trifft diese Aussage über ihren Gott respektive ihre Götter. Durch eine Gruppe verirrter kaltblütiger Fanatiker haben diese Worte allerdings für vermutlich alle Zeit ihre ursprüngliche Bedeutung verloren.
Religion ist insgesamt zu einem schwierigen Thema geworden. Schambehaftet. „Privatsache“. Altbacken und irgendwie naiv. Die Wissenschaft schreitet immer weiter voran und mit jeder neuen Erkenntnis wird eine göttliche Lenkung des menschlichen Geschickes unwahrscheinlicher. Vor 150 Jahren wusste eben nicht jeder, wie ein Gewitter zustande kommt, wann die Gefahr für eine Fehlgeburt steigt und wie sich die Sache mit den Erdbeben, den Vulkanen usw. verhält. Der „göttliche Zorn“ war zu dieser Zeit der schlüssigste Kausalzusammenhang. Und so taten eben alle, was sie für richtig hielten: Beten, Kirche, Opfergaben.
Heutzutage gibt es kaum mehr einen echten Grund für die Menschen, Trost und Hilfe im Glauben zu suchen. Es gibt effektivere Methoden, um Tod und Krankheit zu verhindern, als zu beten und eine Ziege zu schlachten. Wer heute in die Kirche geht, muss wirklich glauben. Um Gott und des Glaubens willen. In einer Zeit, in der Rationalität alles ist, was zählt und Spiritualität beinahe schon mit Geisteskrankheit auf eine Stufe gestellt wird.
Die Kirche hat zudem den Abflug verpasst. Wir können uns jederzeit mit einem Klick über sämtliche andere Religionen auf der ganzen Welt informieren. Mit einem weiteren Klick finden wir auf Google Maps das nächste buddhistische Zentrum in unserer Nähe. Es gibt keinen Grund mehr, uns mit den ungepolsterten Holzbänken in der einzigen, zugigen Dorfkirche zufriedenzugeben. Zu oft habe ich dort erlebt, wie ein unangenehmer Schmierlappen von Dorfpfarrer die immer selben Bibelstellen in einer Monotonie herunterleiert, dass es an Körperverletzung grenzt. Heutzutage können wir unseren spirituellen Horizont erweitern, bis uns schlecht wird.
Oder wir halten uns einfach an die Wissenschaft und googeln nach einer rationalen Erklärung für unsere Fragen. Religion ist heutzutage ein Luxus. Wir können genauso gut ohne den Glauben überleben.
Menschen werden genau in dem Moment wieder religiös, wenn das Leben den Bach runter geht. Wenn Dinge passieren, die so groß sind, dass sie nicht mehr durch unseren Verstand sortiert werden können. Augenzeugen menschlicher Katastrophen wie Erdbeben, Tsunamis und auch Bombenangriffe berichten, wie hartgesottene Atheisten sich als vermeintlich letzten Ausweg im Gebet versuchten. Eltern krebskranker Kinder finden nach über 30 Jahren das erste Mal wieder den Weg in die Messe. Es ist also nicht verwunderlich, dass auch in den Gefängnissen die Menschen zu Gott finden.
Grundsätzlich ist Religion eine gute Möglichkeit, sich selbst psychisch zu stabilisieren. Es bietet eine Erklärung für schwer zu begreifende Ereignisse, sogenannte Traumata.
Die Sache mit „Gottes Wegen“ ist einfach ein Totschlagargument, dass universell einsetzbar ist. Religion nimmt den Menschen Angst. Angst vor dem Tod, vor dem Alleinsein. Es ist ja quasi immer wer da, wenn man glaubt. Und Kontrolle. Man ist dem Wahnsinn nicht mehr ausgeliefert, sondern hat eine Handlungsmöglichkeit durch den Dialog mit Gott. Wenn nichts mehr geht – beten geht immer. Und wer glaubt, der glaubt auch an einen Kausalzusammenhang zwischen dem Gebet und dem, was danach passiert.
Wenn du Moslem bist, strukturiert die Religion dir sogar den Tag. Fünfmal am Tag beten, das gibt einen guten Rhythmus. Da schläft man dann eben nicht mehr bis in die Puppen, denn das erste Gebet hat laut dem Koran in der Morgendämmerung zu erfolgen.
Ich bin überzeugt, dass der Erfolg der Kirche innerhalb der Justizvollzugsanstalten (JVA) einen weiteren Grund hat: Unsere bayerischen Gefängnisseelsorger machen einen außerordentlich guten Job. Sie sind nahbar, aufgeschlossen und in so vielen Bereichen kompetent, wie ich das draußen noch nie bei einem Geistlichen erlebt habe (meine Erfahrung mit externen Geistlichen beschränkt sich allerdings auf wenige Momente im Jahr).
Die JVAen hängen sich auch ins Zeug, allen Glaubensrichtungen gerecht zu werden. In einigen Anstalten gibt es feste muslimische Seelsorger, und teilweise ein regelmäßiges Freitagsgebet. Auf Anfrage wird so ziemlich jeder Religionsrichtung ein passender externer Prediger zur Seite gestellt. Vielleicht, weil man Angst vor einer Diskriminierungsklage hat. Vielleicht, weil wir in Bayern sind, und hier Religion (also die katholische natürlich mehr als alle anderen) eben einen hohen Stellenwert hat. Vielleicht hat man aber auch erkannt, dass die Idee von Begleitung und Schutz durch eine unsichtbare Macht, die über dem irdischen Gesetz steht, unfassbar stabilisierend auf unsere Gefangenen wirkt.
Wie jeder heilende Halt, den wir uns im Leben suchen, kann auch Religion zu einer Gefahr werden. Immer dann, wenn etwas plötzlich nicht mehr hinterfragt wird – was zugegebenermaßen irgendwie immanenter Kern des Konstruktes „Religion“ ist. Immer dann, wenn etwas Suchtcharakter bekommt und alle anderen Fragen des Lebens in den Hintergrund rutschen, wird es gefährlich. Ein guter Gefängnisseelsorger sieht das und steuert gegen.
Unsere Seelsorger nehmen uns Gefängnispsychologen unfassbar viel Arbeit ab: Todesnachrichten, Trauerarbeit und einen Bezugspunkt für viele der labilen Köpfe in Haft schaffen. Die Kirche ersetzt keine Gespräche mit den Psychologen (und vice versa) und erst recht keine Therapie, aber es ist seit vielen Jahren eine wundervolle Zusammenarbeit, die allen Beteiligten das Leben erleichtert.
Die meisten Gefangenen verwerfen ihre frommen Pläne nach ihrer Entlassung genauso schnell, wie ihr Vorhaben, nüchtern zu bleiben. Aber was spricht dagegen, für eine gewisse Zeit Halt in einem geistigen Konstrukt zu suchen, auf die Gefahr hin, dass alles erstunken und erlogen ist? Schließlich machen wir alle das vor jeder einzelnen Bundestagswahl.
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