KOMMENTAR | Cochrane steht für Wissenschaftlichkeit in der Medizin wie kaum ein anderer Name. Jetzt gibt es in Deutschland ein Cochrane-Zentrum für Komplementärmedizin. Was soll das?
Cochrane-Reviews, die es inzwischen zu Tausenden gibt, tragen maßgeblich zu unserer wissenschaftlich-medizinischen Versorgung bei – Archie Cochrane und den anderen Heroen der evidenzbasierten Medizin sei Dank. Cochrane ist ein seit über 30 Jahren aktives Netzwerk mit Mitgliedern aus mehr als 130 Ländern. Die Organisation beansprucht die finale Deutungshoheit über Nutzen und Schaden jeder erdenklichen medizinischen Intervention.
Folglich knöpfen sich die Reviewer auch Verfahren jenseits des schulmedizinischen Mainstreams vor, die bei Teilen der Bevölkerung als sanft, natürlich, ganzheitlich, traditionell oder spirituell hoch im Kurs stehen. Was auf den ersten Blick konsequent und sinnvoll erscheint, ist hochproblematisch.
Denn in der Bevölkerung muss so der Eindruck entstehen, die Wissenschaft forsche ernsthaft daran, ob etwa geistartige Heilkräfte Wunder bewirken können. Was die Sache noch schlimmer macht: Die Methodik der evidenzbasierten Medizin ist gar nicht dafür geeignet, unplausible Verfahren zu testen. So produzieren klinische Studien zwangsläufig auch positive Ergebnisse. Um es also auf den Punkt zu bringen: Cochrane adelt Schwurbel.
Für das Überprüfen solcher Verfahren hat Cochrane die eigene Gruppe Cochrane Complementary Medicine etabliert. Neben ihrem Hauptsitz in den USA und Satelliten in China, Südkorea und der Schweiz betreibt sie seit kurzem auch eine Niederlassung in Deutschland. Leiter der Neugründung ist Holger Cramer, seit 2022 Professor für die Erforschung komplementärmedizinischer Verfahren an der Universität Tübingen und am Robert Bosch Centrum für Integrative Medizin und Gesundheit in Stuttgart. Derzeit wird die Professur von der Bosch Stiftung finanziert – ab 2027 übernimmt vertragsgemäß die Universität Tübingen die Kosten.
Cramer ist vor allem Spezialist für Yoga und Achtsamkeit. Die Liste der komplementärmedizinischen Cochrane-Reviews ist jedoch weit umfangreicher: Sie reicht von traditioneller ostasiatischer Medizin und Homöopathie über Pflanzenheilkunde und Ozontherapie bis hin zu Akupunktur und therapeutischem Berühren.
Die Arbeit von Cochrane wird auch in alternativmedizinischen Kreisen geschätzt. Von DocCheck nach der Cochrane-Neugründung gefragt, antwortet Ulf Riker, 2. Vorsitzender des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte: „Der DZVhÄ begrüßt es, wenn komplementäre Therapieverfahren systematisch evaluiert werden.“ Auf den ersten Blick verblüfft Rikers Haltung, sollte man doch meinen, dass die evidenzbasierte Medizin mit ihrer unbestechlichen, strengen Methodik den geistartigen Heilkräften der Homöopathie und ähnlichem Hokuspokus im Nu den Garaus macht.
Weit gefehlt. Ein Cochrane-Review zu homöopathischen Präparaten bei kindlichen Atemwegsinfekten etwa diskutiert die auch sonst durchaus üblichen methodischen Schwächen der eingeschlossenen Studien, aber erwähnt mit keinem Wort, dass diese Schwächen allesamt Firlefanz sind gegenüber der hanebüchenen Grundannahme, dass ultraverdünnte Substanzen überhaupt eine Wirkung entfalten können.
Es wird in diesem und allen anderen Cochrane-Reviews vielmehr so getan, als wären selbst Naturgesetze nicht weiter beachtenswerte Randnotizen, die mit der medizinischen Forschung nicht das Geringste zu tun haben. Gemäß „one method fits all“ wird vorbehaltlos jede auch noch so esoterische Maßnahme von Cochrane nach demselben Schema unter die Lupe genommen, wie ein mit Milliardenaufwand entwickeltes Arzneimittel aus dem Pharmalabor.
Noch ärger wird es, wenn erklärte Lobbyisten der Alternativszene selbst als Cochrane-Autoren tätig werden. Für das Review zum Reizdarmsyndrom etwa zeichnet auch Rachel Roberts vom Homeopathy Research Institute in London verantwortlich. Das Institut arbeitet nach eigener Aussage daran, die Homöopathie, die von „fehlerhaften akademischen Berichten“ verunglimpft werde, wieder ins rechte Licht zu rücken. Das Review selbst kommt zu dem Schluss, dass die Ergebnisse „unsicher“ seien, weshalb keine Schlussfolgerung gezogen werden könnten.
Das zugrundeliegende statistische Problem: Für Cochrane und die EbM-Methodik spielt keine Rolle, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Arbeitshypothese korrekt ist. Die klinischen Studien werden es schon weisen, was kümmern da Physik, Chemie und Pharmakologie. Dass jedoch die vor einem Test angenommene Wahrscheinlichkeit, daher Vortestwahrscheinlichkeit genannt, essenziell wichtig ist, bemerkte bereits im 18. Jahrhundert der englische Mathematiker, Statistiker, Philosoph und presbyterianische Pfarrer Thomas Bayes in seinem Aufsatz „An essay towards solving a problem in the doctrine of chances“.
Auf den Punkt brachte es Statistikerin Regina Nuzzo, die in Nature vorrechnete, welchen Einfluss die Vortestwahrscheinlichkeit auf die Richtigkeit eines Ergebnisses hat. Bei einem p-Wert von 0,05, der gemeinhin als Wasserscheide zwischen wahr und unwahr gilt, ist ein Testergebnis nur mit einer 11%igen Chance richtig, wenn die Vortestwahrscheinlichkeit 5 % beträgt. Selbst bei einem p-Wert von 0,01, der sogar als hochsignifikant angesehen wird, ist das Ergebnis dann lediglich zu 30 % korrekt. Nur eine hohe Vortestwahrscheinlichkeit hat keinen Einfluss auf das Ergebnis.
Dass die Vortestwahrscheinlichkeit in der EbM-Methodik außen vor ist, erstaunt umso mehr, als es in der Medizin gang und gäbe ist, sie zu berücksichtigen. Nur zwei Beispiele:
Cramer, Chef des neu eingerichteten Cochrane-Zentrums, hat mit Homöopathie nichts zu tun und will sich auch zu deren möglicher Wirksamkeit nicht äußern. Auch legt er Wert auf die Unterscheidung in alternativ und komplementär. So seien in der Onkologie zusätzlich zu Chemo- und Radiotherapie angewendete Verfahren „vielfach evidenzbasiert und leitlinienkonform“, jedoch als eigentliche Krebsbehandlung „eine lebensgefährliche Fahrlässigkeit“.
Ob nun alternativ oder komplementär – Verfahren aus dem nicht-schulmedizinischen Spektrum sind in der Regel durch eine geringe Vortestwahrscheinlichkeit charakterisiert, sei es, weil sie auf unplausiblen Konzepten beruhen, die Natur mystisch überhöhen, oder die Intervention gleich ganz ins Geistartige auslagern. Insofern wäre gerade für die Arbeit von Cochrane Complementary Medicine im Allgemeinen und für Cramers Arbeit im Besonderen das Berücksichtigen der Vortestwahrscheinlichkeit relevant. Ein simpler Algorithmus würde schon helfen.
Danach gefragt, zeigt er sich im Prinzip offen. Obwohl es „durchaus möglich“ sei, die Vortestwahrscheinlichkeit in klinische Studien statistisch einzubeziehen, sehe er derzeit keine Möglichkeit der Umsetzung. „Mir ist hierzu in der Medizinwissenschaft allerdings keine fundierte und anerkannte Quantifizierung dieser Wahrscheinlichkeit bekannt. […] Daher sehe ich aktuell keine hinreichende Datenlage, auf der die Forschungsmethodik für den Einbezug der Vortestwahrscheinlichkeit adaptiert werden könnte“, so Cramer.
So what? Schon Statistiker Ronald Fisher sah den von ihm eingeführten p-Wert lediglich als informellen Hinweis dafür an, „ob sich ein zweiter Blick lohnt“, wie Nuzzo in ihrem Nature-Beitrag schreibt. Für Fisher war sein p-Wert nur Teil eines fließenden, nichtnumerischen Prozesses, der verschiedene Daten zusammen betrachtet und Hintergrundwissen berücksichtigt – ein eher pi-mal-Daumen-Ansatz also. Stattdessen allein dem p-Wert zu vertrauen und so die Wirksamkeit un- oder wenig plausibler Verfahren systematisch massiv zu überschätzen, hilft zwar der Alternativszene, aber nicht der Wahrheitsfindung.
Dass dieser systematische Fehler seit 30 Jahren in Kauf genommen wird, ist ein Skandal. Solange Cochrane alternativmedizinische Verfahren nach der derzeitigen EbM-Methodik untersucht und jedes Review am Ende auch noch gebetsmühlenartig „weitere Studien“ fordert, ist ein Cochrane-Zentrum für Komplementärmedizin kontraproduktiv.
Bildquelle: Erstellt mit Midjourney