KOMMENTAR | Unter Geimpften gibt es ein erhöhtes Risiko für Influenza-Infektionen – behauptet zumindest eine Studie. Warum ich diese Ergebnisse skeptisch sehe und mir Sorgen um ihre Interpretation mache.
Influenza ist eine durch Impfung vermeidbare Erkrankung. Allerdings führen Grippeimpfungen nicht zu langanhaltenden Antikörpertitern und Influenzaviren verändern sich regelmäßig. Daher wird auf der Nordhalbkugel eine jährliche Grippeimpfung zu Beginn jeder respiratorischen Virussaison in den Herbstmonaten empfohlen – und jedes Jahr stellt sich immer wieder die Frage, ob für einzelne Personen wieder eine neue Impfung notwendig ist. Eine hierzu kürzlich erschienene Vorveröffentlichung, die sich noch im Review-Prozess befindet, hat das Potenzial, für große Verunsicherung zu sorgen und in den Medien missbräuchlich verbreitet zu werden. Worum handelt es sich konkret?
Eine Forschergruppe aus der Cleveland Clinic führte, mit dem Ziel, die Wirksamkeit des Grippeimpfstoffs in der Erkältungssaison 2024/2025 zu ermitteln, eine Analyse an 53.402 Beschäftigten des Cleveland Clinic Health Systems (CCHS) durch. Die Impfquote war mit 82,1 % relativ hoch, da das CCHS seine Mitarbeiter verpflichtet, sich jährlich gegen Grippe impfen zu lassen. Eine Befreiung kann aus medizinischen oder religiösen Gründen beantragt werden. Personen galten 7 Tage nach Erhalt einer Einzeldosis eines Grippeimpfstoffs als geimpft.
Während der Beobachtungszeit erkrankten insgesamt 2,02 % an labormedizinisch bestätigter Influenza (positiver Nukleinsäureamplifikationstest für Influenza A oder B). Dabei wurde die Entscheidung über einen Grippetest von Fall zu Fall vom behandelnden Arzt entweder in den arbeitsmedizinischen Kliniken oder in der Praxis des Hausarztes getroffen.
Die kumulative Grippeinzidenz war in den geimpften und ungeimpften Personen zunächst ähnlich, stieg aber überraschenderweise im Verlauf der Studie von Oktober 2024 bis März 2025 unter den Geimpften schneller an als unter den Ungeimpften, sodass nach Bereinigung nach Alter, Geschlecht, klinischer Tätigkeit und Beschäftigungsort das Gripperisiko für Geimpfte im Vergleich zu Ungeimpften signifikant höher erschien (HR, 1,27; 95 % KI: 1,07–1,51; p = 0,007).
Da es sich um eine unstrukturierte Beobachtungsstudie handelte, gab es, wie bei „Real World“ Studien üblich, kein Studienprotokoll mit streng vorgeschriebenen Untersuchungsterminen. Tatsächlich war an jedem Studientag der Anteil der Geimpften, die auf Grippe getestet wurden, höher als der Anteil der Ungeimpften. Dies deutet darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Geimpfte an einem bestimmten Tag getestet wurden, höher war als bei den Ungeimpften.
Das könnte daran liegen, dass es tatsächlich mehr Influenzafälle unter Geimpften gab – es könnte jedoch auch auf eine höhere Testbereitschaft unter Geimpften zurückzuführen sein. Möglicherweise lag also ein Detection-Bias vor. Zudem war die Einteilung der Probanden in Geimpfte und Ungeimpfte nicht randomisiert, sondern folgte einer Impfpflicht bzw. einer Ausnahmeregelung. Dies kann ebenfalls zu erheblichen Verzerrungen geführt haben.
Weiterhin unterlag die Studie möglicherweise auch einem Depletion-Bias, da unter den Ungeimpften durch frühere Impfungen oder Grippe-Erkrankungen, zum Beispiel in der letzten Saison, eine Restimmunität vorgelegen haben kann. Studien zur Wirksamkeit von Impfstoffen unterliegen dieser Art von Verzerrung, da die Zahl der Personen mit Infektionsrisiko in unterschiedlichem Ausmaß abnimmt, wenn Personen mit einer früheren Infektion in die Studie aufgenommen werden.
Auf den ersten Blick liest sich die Vorveröffentlichung sehr professionell und die Studie wirkt angesichts des offenen Designs statistisch entsprechend des State of the Art analysiert – allerdings wurde das überraschende Ergebnis kaum kommentiert. Insbesondere wurde keine Auswertung hinsichtlich vorbestehender Immunität durchgeführt. Da beim CCHS quasi eine Impfpflicht besteht, wäre auch eine Auswertung nach Beschäftigungsdauer hilfreich gewesen. Zudem ist eine Beobachtungsstudie unter Beschäftigten des Gesundheitswesens mit 80-prozentiger Impfquote kaum auf die Allgemeinbevölkerung übertragbar.
Bereits früher hatte eine ähnlich angelegte Beobachtungsstudie in derselben Klinik ähnlich verwirrende Ergebnisse gebracht. In der Saison 2022/2023 wurden die Angestellten der Cleveland Clinic auf die Wirksamkeit der COVID-19-Impfung untersucht. Die Studie ergab, dass Personen, die vor dem 12. September 2022 – dem Tag, an dem die bivalente Auffrischungsimpfung in der Cleveland Clinic verfügbar wurde – mehr Impfdosen erhalten hatten, in den folgenden Monaten häufiger positiv auf COVID-19 getestet wurden als Personen, die zuvor weniger Impfdosen erhalten hatten.
Bereits damals wurde nicht erwähnt, dass Personen, die mehr Dosen erhalten haben, auch ein höheres Infektionsrisiko haben könnten. Es gibt verschiedene Einflussfaktoren, die bei einer nicht randomisierten Beobachtungsstudie beachtet werden müssen. Zum Beispiel können Begleiterkrankungen, die zu einem geschwächten Immunsystem führen, auch zur Impfung motivieren. Insofern war die Adjustierung nach Alter, Geschlecht, und klinischer Pflegetätigkeit nicht ausreichend und es hätte nach Motivationsfaktoren für bzw. gegen die Impfung sowie Begleiterkrankungen gefragt werden müssen, um initiale Ungleichgewichte der beiden Gruppen zu erkennen. Darüber hinaus können leichtfertige Verhaltensweisen während der Beobachtungsphase nach der Impfung („Ich bin ja geimpft, da kann mir nichts passieren.“) ebenso zu Verzerrungen führen wie unterschiedliche Gründe, einen Test durchzuführen.
Deshalb sollte eine Schlussfolgerung, die unterstellt, dass eine Impfung die Wahrscheinlichkeit einer Infektion nicht beeinflusst, oder sogar erhöht, anstatt sie zu vermindern, sehr kritisch diskutiert werden. Dies gilt insbesondere in einem Setting, welches andere Mechanismen als die Randomisierung zur Einteilung in geimpft/nicht geimpft zulässt (z. B. Freiwilligkeit, medizinische oder religiöse Gründe, Motivation, Impfpflicht). Man darf auch nicht vergessen, dass das Hauptziel der Grippeimpfung darin besteht, schwere Krankheitsverläufe, Hospitalisierungen und Todesfälle einzudämmen. Diese waren aber nicht Bestandteil der Zielkriterien in der Cleveland Studie, sondern lediglich positive Tests. CDC-Schätzungen zufolge betrug die Wirksamkeit des Grippeimpfstoffs in der Saison 2024/2025 32–78 % bezüglich der Wahrscheinlichkeit eines grippebedingten Krankenhausaufenthalts.
Insbesondere wenn es um Impfungen geht, dürfen Studienergebnisse nicht nur oberflächlich betrachtet werden. Bei nicht randomisierten Beobachtungsstudien kann es zu vielen unberücksichtigten Verzerrungen kommen. Bekanntlich lesen jedoch viele Konsumenten verschiedenster Medien nur die Überschrift und dies kann den Verlauf der weiteren Diskussionen erheblich verfälschen.
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