Menschen mit Borderline-Störung können ihre Emotionen kaum kontrollieren und verletzen sich häufig selbst – manchmal auch schwer. All das habe ich im Hinterkopf, als ich notfallmäßig zu Herrn S. gerufen werde.
„Lotte, kannst du kommen?“ Die Stimme am Telefon überschlägt sich. „Der Schmidtbauer hat sich wieder geschnitten. Medizinischen Dienst hab ich schon informiert.“ – „Bin unterwegs. Danke, Domi.“ Ich beeile mich. In erster Linie nicht wegen dem Schmidtbauer, sondern um Dominik, meinem Beamten, zur Seite stehen zu können. Er ist erst seit einigen Monaten im Dienst und eine solche Situation kann ganz schön beeindrucken.
Herr Schmidtbauer ist ein sogenannter Borderliner und schneidet sich recht regelmäßig. Oft auch so tief, dass es genäht werden muss. Einmal auch schon so tief, dass der Knochen frei lag. Das sieht recht beeindruckend aus, denn bereits eine relativ kleine Menge Blut lässt einen Haftraum wie ein Schlachthaus erscheinen.
Ich komme an. Dominik hatte sich geistesgegenwärtig noch schnell die blauen Gummihandschuhe übergestreift, bevor er anfing, Herrn Schmidtbauers Arme mit einem Handtuch abzudrücken. Die beiden stehen in einer beeindruckenden Blutlache. Das Handtuch wechselt seine blassblaue Farbe in ein sehr dunkles, nasses Rot. Dominik tropft die rote, klebrige Suppe durch die Finger auf seine Schuhe. Später wird er sich darüber aufregen. Der typisch metallische Geruch erfüllt den Raum und schießt durch meine Nase direkt in meine Amygdala, die sofort eine Verbindung zu Gefahr und Tod herstellt.
Die Ambivalenz von Ekel und Abscheu auf der einen und Sorge auf der anderen Seite stehen meinem Beamten ins Gesicht geschrieben. Die drei Mitgefangenen stehen kreidebleich mit hängenden Armen und eingefrorener Mimik auf dem Gang, hinter einer Wand von inzwischen angerückten blauen Uniformen. Nach dem Absetzen eines Notrufes dauert es nur wenige Momente und der Gang ist voll mit Kollegen, die zur Unterstützung herbeieilen. Es gibt mir jedes Mal ein Gefühl von Sicherheit, wenn ich Zeuge dieses Schauspieles werde.
Ich nehme durch die Kollegen hindurch Blickkontakt mit den Mitinhaftierten auf. „Bei Ihnen alles okay?“, versuche ich den Geräuschteppich aus polternden Einsatzstiefeln, Getuschel der Mitarbeiter und Anweisungen des Dienstleiters zu übertönen. „Wir … haben Mittagsschlaf gemacht und Isa hat gebetet. Wie immer. Wir haben das erst gemerkt, als es zu spät war.“ – „Alles gut, es ist nicht Ihre Aufgabe, auf die anderen Gefangenen aufzupassen“, versuche ich sein Gewissen auf die Schnelle zu beruhigen. Der Dienstleiter ordnet an, die drei Mitgefangenen in andere Hafträume zu verbringen. Ich notiere die Namen und funke eine Kollegin an, damit die sich um die verstörten Herren kümmern und mir so den Rücken freihalten kann.
Einen Moment später ist der medizinische Dienst da. Alles geht sehr schnell. Sie legen einen Druckverband an und nehmen Herrn Schmidtbauer mit zum Nähen. Ich stehe da und habe plötzlich nichts mehr zu tun.
Domi flucht: „So eine Drecksau! Meine kompletten Klamotten sind im Arsch! Ich schau aus wie ein ausgeblutetes Schwein. Arschloch!“ Überkompensation, Wut statt Betroffenheit. „Warum macht der das immer, die Drecksau?!“
Ja, warum macht der das immer, die Drecksau? Er macht es nicht, um uns zu ärgern, so viel vorweg. Über die Borderline-Störung kursiert eine Menge Halbwissen. So sind viele der Meinung, Borderliner würden durch den Anblick des eigenen Blutes eine Art Hochgefühl erlangen. Das stimmt nicht.
Gelegentlich höre ich auch die These, das Schneiden sei ein reines Streben nach Aufmerksamkeit, der Patient leide also an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung, auch ADHS genannt. Nein, auch das stimmt nicht. Auch, dass die sich „eh nie umbringen“, sonst „würden sie sich ja nicht schneiden“ stimmt nicht (das wäre schön). Und eine „Modeerscheinung der Gen Z“ ist es auch nicht. Borderliner gab es nämlich schon, als ich noch in der Schule war, und das war nun doch ein paar Tage vor Gen Z. Was stimmt nun?
Bei Borderline – auch emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ – handelt es sich um eine schwerwiegende Störung der Affektregulation, begleitet von tiefgreifenden Störungen des Selbstbildes und des zwischenmenschlichen Verhaltens. Nehmen wir das mal schrittweise auseinander.
Stellen Sie sich vor, Ihr Chef stellt Sie vor Ihrem gesamten Kollegium wegen eines kleinen Fehlers bloß. Während Sie verarbeiten, was gerade passiert, spüren Sie, wie Ihr Blutdruck steigt. Ihnen gehen tausend Gedanken durch den Kopf, Sie werden wütend. Sie spüren Ihren eigenen Puls am Hals pochen, Ihnen wird heiß. Nach der Teamsitzung flüchten Sie sich in ihr Büro, um sich zu beruhigen.
Sie lenken sich mit anderen Aufgaben ab, telefonieren vielleicht mit einer guten Kollegin oder Ihrem Partner und machen Ihrer Wut Luft. Abends gehen Sie zum Sport und schlafen eine Nacht drüber. Am nächsten Tag bitten Sie Ihren Chef in Ruhe um ein Gespräch und klären die Situation. Was Sie da getan haben, nennt sich Affektregulation. Man lenkt sich ab, kommt runter und findet Strategien zur Selbstberuhigung, um dann in funktionalem Verhalten das Problem zu lösen.
Als Borderliner kommen Sie über das erste, heiße Stadium nicht hinaus. Der Puls pocht Ihnen noch Stunden später an der Halsvene. Bis zum Feierabend haben Sie drei Oberteile durchgeschwitzt, weil Sie aus lauter Wut vier Stunden mit einer deutlich erhöhten Körpertemperatur herumlaufen. Um weiteren Eskalationen auszuweichen, meiden Sie den Kontakt zu allen Kollegen für den Rest des Tages. An Arbeit ist nicht mehr zu denken, denn in Ihrem Kopf herrscht nur noch weißes Rauschen, ein hoher Pfeifton und schiere Wut.
Ihr Kopf gleicht gegen Feierabend optisch noch immer einer kurz vor dem Platzen stehenden, überreifen Tomate, Ihr Mund ist trocken wie eine vernachlässigte Zimmerpflanze und Ihr Kopf ist leer und fühlt sich gleichzeitig an, als würde er explodieren. Sie werden die ganze Nacht wach liegen und über die Situation nachdenken. Puls und Blutdruck haben sich auch weit nach Feierabend nicht beruhigt. Es kommen bohrende Kopfschmerzen hinzu. Sie sind erschöpft – aber voller Adrenalin.
Auch am nächsten Tag ist nicht an ein klärendes Gespräch mit dem Chef zu denken, denn Sie sind noch immer durch Ihren heißen Zorn blockiert. Das Einzige, was Sie herunterbringt, sind körperlicher Schmerz oder Substanzen. Wenn Sie Glück haben, hilft es Ihnen, bis zur Erschöpfung zu laufen. Ich spreche nicht von zehn Kilometern in Herzfrequenzzone vier – Sie laufen, bis Sie sich übergeben oder zusammenbrechen. Das kann ein bisschen dauern, aber es hilft.
Falls nicht, werden Sie wahrscheinlich trinken, Drogen nehmen oder sich eine unauffällige Stelle suchen, an der Sie sich die Haut aufschneiden; zum Beispiel den Oberschenkel. Erst jetzt reguliert sich Ihr Adrenalin-Pegel auf ein erträgliches Maß. Der dicke Nebel in ihrem Kopf lichtet sich, Ihre Gedanken bahnen sich wie von selbst den Weg zurück in logische Pfade. Sie sind wieder handlungsfähig.
Gleichzeitig stellt sich ein schmutziges Gefühl ein. Sie haben es „wieder getan“. Sie wollten doch von diesem Verhalten wegkommen. Sie wollen sich nicht mehr wehtun. Aber Sie haben es schon wieder getan. Sie haben versagt. Schon wieder. Es gibt noch ein paar andere Möglichkeiten, mit denen Borderline-Patienten versuchen, sich selbst zu regulieren, aber diese sind die gängigsten.
Das zweite große Leitsymptom ist die „tiefgreifende Störung des Selbstbildes und des zwischenmenschlichen Verhaltens“: Borderliner sind nicht in der Lage, Beziehungen aufrechtzuerhalten. Jede Art von Beziehung ist schwierig. Therapeutische Beziehungen, freundschaftliche Beziehungen, familiäre Beziehungen und romantische Beziehungen. Dabei wird meist ein beachtliches Auf und Ab durchlaufen. Man kann auch sagen: Borderliner haben einen Hang zum Drama.
Eine Beziehung ist immer absolut oder gar nicht. Ein Freund ist immer ein blutsbrüderlich vertrauter, über jegliche Kritik erhabener Kumpan auf Leben und Tod. Oder – und das meist kurze Zeit später – ein hinterfotziger, verabscheuungswürdiger Verräter. Romantische Beziehungen sind geprägt von etlichen Trennungen und Versöhnungen. Gewürzt wird das Ganze oft mit körperlicher Gewalt und zwar in alle Richtungen. Der Patient verletzt den Partner, der Partner den Patienten, der Patient sich selbst. Und nachdem sich innerhalb dieses Krankheitsbildes meistens zwei Borderliner in einer romantischen Beziehung treffen, ist am Ende jeder verletzt, körperlich wie seelisch. So gibt es kaum einen Ausweg aus diesem festgefahrenen Spiel aus Selbst- und Fremdaggression.
In therapeutischen Beziehungen läuft es im Prinzip ähnlich. Man kann davon ausgehen, dass der Patient mit dem genannten Störungsbild zunächst schwer begeistert ist von seinem neuen Therapeuten. Er wird die Fachkompetenz, die Persönlichkeit, die Professionalität und die Kreativität preisen, mit der der neue Behandler vorgeht. Meist wird noch ein kleiner Seitenhieb auf die vorherigen Behandler folgen, die sich unmöglich und völlig unprofessionell verhalten haben. Je höher man zu Beginn auf das emotional-instabile Podest gehoben wird, umso tiefer fällt man nach kürzester Zeit.
Meiner Erfahrung nach überdauert die Phase der Idealisierung zirka vier bis fünf Sitzungen. Es folgt in der Regel ein Beziehungsabbruch durch den Patienten, meist mit vorrangegangenen Vorwürfen, Anschuldigung und Unterstellungen. Teilweise konkret (man habe sich gegen seinen Patienten gewendet) oder auch sehr diffus (man sei wie alle anderen und verstehe ihn auch nicht). Oft gehen solche Beziehungsabbrüche mit Entwertungen und Beleidigungen einher. Meist mit einer gewissen Theatralik. Und – da wir wissen, dass negative Emotionen für Borderline-Patienten schwer aushaltbar sind – leider auch häufig mit selbstverletzenden Handlungen.
Das Zauberwort heißt auch hier, wie so oft: Beziehungskonstanz. Man macht nach einiger Zeit ein erneutes Gesprächsangebot, nimmt das Gesagte nicht persönlich und versucht, die Situation mit dem Patienten professionell aufzuarbeiten.
Nicht jeder Borderline-Patient leidet unter einer dermaßen starken Ausprägung. Und nicht jeder unter den oben genannten Symptomen. Was allen Patienten gemein ist, ist die Schwierigkeit, tiefe Beziehungen über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten und die Defizite in der Affektregulation. Kein einziger tut das, was er tut, um die Menschen in seiner Umgebung zu ärgern.
Herr Schmidtbauer wurde genäht und zurück in seinen Haftraum gebracht. Man versucht, der Selbstverletzung so wenig Bühne wie möglich zu geben. Herr Schmidtbauer bekommt aus diesem Grund auch kein extra Gespräch. Wir werden beim nächsten regulären Termin über die Situation sprechen. Das klingt empathiebefreit, ist aber meiner Erfahrung nach tatsächlich ein guter Fahrplan.
Dominik hat sich inzwischen umgezogen, seine Schuhe geputzt und sucht weiterhin nach dem passenden Schimpfwort für Herrn Schmidtbauer. Wir gehen eine rauchen und quatschen. Nach 20 Minuten sind wir uns einig: Das passende Schimpfwort lautet „arme Sau“.
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