Die Genauigkeit ärztlicher Schätzungen lässt laut einer aktuellen Studie zu wünschen übrig. Dass ihr die Kollegen überbieten könnt, dürft ihr in unserem Test beweisen.
Wie groß ist eine Walnuss? Ein Tennisball? Eine Ein-Euro-Münze? Und wie viel sind eigentlich 23,25 Millimeter? (Spoiler: Der Durchmesser eines Euros.) In der medizinischen Versorgung gehören Größen und Größenvergleich zum täglichen Brot, schließlich dokumentieren sie das Ausmaß von Läsionen, Knoten und Ergüssen. Auch sollte ein Arzt nach einer Laparotomie beim Zunähen der Wunde Entfernungen gut taxieren können, da laut STITCH-Studie 5 mm Nahtabstand zu weniger Hernien führen als 10 mm.
Dass Ärzte nicht besonders gut darin sind, Größen abzuschätzen, hat jetzt eine im Ärzteblatt veröffentlichte Studie gezeigt. Drei Ärzte der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Neurochirurgie des Universitätsklinikums Düsseldorf haben dafür per Online-Tool die Schätzgenauigkeit von 206 Kollegen geprüft. Die Probanden waren in etwa je zur Hälfte Frauen und Männer sowie Fachärzte und Ärzte in Weiterbildung.
Mit Hilfe eines Schiebereglers auf ihrem zuvor kalibrierten Bildschirm schätzten die Probanden die Größen von Erbse, Golfball, Walnuss, Tennisball, Stecknadelkopf, Hühnerei (Größe M) und zwei Münzen. Diese auch im Medizineralltag gängigen Vergleichsobjekte offenbaren schon ein erstes Problem: Während Golf- und Tennisbälle sowie Münzen immer gleich groß sind, variieren die Durchmesser von Erbse, Walnuss und Hühnerei zum Teil erheblich. Auch wenn für Lebensmittel in der Regel Handelsnormen definiert sind, hat man diese im Alltag wohl kaum parat – wer weiß schon, was „Größe M“ beim Hühnerei bedeutet, und ob mit „Walnuss“ eher die pompöse aus Kalifornien oder die zierliche vom Baum im eigenen Garten gemeint ist. Ganz fatal: Der Stecknadelkopf ist völlig ungenormt, handelsüblich sind Größen von 1 bis 6 mm.
Um außerdem herauszufinden, wie gut die Probanden objektive Maße einschätzen können, sollten sie auf dem Schieberegler vorgegebene metrische Größen von 5 mm bis 10 cm einstellen. Und schließlich wurden sie aufgefordert, ihre eigene Schätzqualität anzugeben. Dafür sollten sie die Aussage „Ich kann gut schätzen“ auf einer Skala von 0 für „stimme gar nicht zu“ bis 100 für „stimme vollkommen zu“ stufenlos bewerten.
Heraus kam dabei nicht nur Schmeichelhaftes – auch wenn man Subgruppenanalysen mit wenigen Probanden pro Gruppe nicht überinterpretieren sollte:
Geradezu Alarmierendes brachten Gespräche mit Teilnehmenden zutage: Unter „Stecknadelkopf“ verstanden viele „irrtümlich die Größe der Spitze oder des Schafts der Nadel“. Wenn man sich nicht einmal einig ist, von welchem Gegenstand man redet, werden Vergleiche vollends zum Blindflug.
Nun könnte man die Fehler beim Schätzen als Bagatelle abtun, wenn alle Schätzer gleich daneben lägen – tun sie aber nicht. Manche schätzen sehr präzise, andere unter-, wieder andere überschätzen die wahren Größen. Die Streuung ist gewaltig. Selbst wenn sich also alle einig wären, was unter einem Stecknadelkopf zu verstehen ist und wo die Walnuss geerntet wurde, addieren sich bei der Kommunikation die jeweiligen Fehleinschätzungen von Sender und Empfänger noch auf.
Ihre ernüchternden Ergebnissen bringen die Autoren so auf den Punkt: „Eine Angabe wie „stecknadelkopfgroßer Trommelfelldefekt“ könnte somit je nach Auslegung einen winzigen Defekt oder einen subtotalen Trommelfelldefekt beschreiben und bietet daher keine verlässliche Grundlage für Therapieentscheidungen.“ Sie fordern deshalb, dass Ärzte sich weder von ihrer Intuition noch von ihrer Selbstwahrnehmung blenden lassen sollen – selbst wenn sie männlich, fertig ausgebildet, berufserfahren und geübt im Verwenden von Größen sind. Wann immer es geht, sollen sie lieber zu Maßband und Zollstock greifen. Am Ende des Papers danken die Autoren den Probanden für deren „sportlichen Ehrgeiz“. Bleibt zu hoffen, dass Ärzte in Zukunft auch messtechnischen Ehrgeiz zeigen – am besten in Melonengröße.
Wie exakt ist euer räumliches Vorstellungsvermögen? Testet euer Schätzmaß mit fünf Fragen rund um Größen medizinischer Strukturen – von winzig bis faustgroß.
Bildquelle: Ian Noble, Unsplash